Nobelpreis für Liu Xiaobo:Ein leerer Stuhl als Symbol

Statt in Oslo den Friedensnobelpreis entgegenzunehmen, sitzt Liu Xiaobo im Gefängnis in China. Das ist aber kein Sieg für Peking: Lius leerer Stuhl steht für weit mehr als nur für einen abwesenden Preisträger.

Salil Shetty, Generalsekretär von Amnesty International

Salil Shetty ist Generalsekretär von Amnesty International. Er nimmt am Freitag an der Preisverleihung in Oslo teil. Die Menschenrechtsorganisation war im Jahr 1977 Trägerin des Friedensnobelpreises.

A postcard of Nobel Peace Prize winner Liu and his wife is seen on the desk set up by pro-democracy Civic Party to collect signatures from passers-by to demand his release in Hong Kong

Liu Xiaobo und seine Frau Liu Xia auf einer Postkarte: Ihr Fehlen bei der Nobelpreisverleihung in Oslo wird zu einem Symbol.

(Foto: REUTERS)

Bei der diesjährigen Feier zur Verleihung des Friedensnobelpreises wird ein Stuhl leer bleiben. Inmitten des prunkvollen, bis auf den letzten Platz gefüllten Saals wird der Stuhl des Preisträgers, Liu Xiaobo, als einziger unbesetzt bleiben.

Liu Xiaobo hätte auf dem Podium neben den Mitgliedern des Nobelpreis-Komitees im ehrwürdigen Rathaus von Oslo gesessen und wäre für seinen langen, gewaltfreien Kampf für Menschenrechte in China geehrt worden. Er hätte eine Rede gehalten, seine Medaille und seine Urkunde in Empfang genommen und erneut zu friedlichen, rechtlichen und politischen Reformen in China aufgerufen. Er hätte für die Fotografen posiert, Interviews gegeben, kurz den Glanz internationaler Anerkennung genossen und wäre anschließend nach Hause gereist.

Stattdessen sitzt Liu Xiaobo im Gefängnis. Er wurde wegen "Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt" zu elf Jahren Haft verurteilt. Er sitzt im Gefängnis, weil er der wichtigste Autor der Charta 08 ist - einem Manifest, das die Anerkennung fundamentaler Menschenrechte in China fordert. Liu hat stets darauf beharrt, dass diese Verurteilung sowohl die Verfassung seines Landes als auch grundlegende Menschenrechte verletze.

Dennoch wurde er genauso hart bestraft wie viele andere Chinesen, die sich entschieden haben, offen ihre Meinung zu äußern. Das Reglement der Nobelpreisvergabe verlangt, dass der Gewinner oder seine engsten Familienmitglieder den Preis persönlich in Empfang nehmen.

Die erzwungene Abwesenheit Lius hat zur Folge, dass erstmals seit 1935 der Friedensnobelpreis nicht während der Zeremonie verliehen werden kann. Seine Ehefrau hätte den Preis zwar für Liu in Empfang nehmen können, doch sie wurde von den Behörden in Peking unter Hausarrest gestellt. Dutzende Personen, die nach Oslo reisen wollten, wurden ebenfalls festgehalten oder es wurde ihnen verboten, China zu verlassen.

Chinas Regierung irrt jedoch, wenn sie dies als Sieg betrachtet. Trotz einer mit großem politischem Druck geführten Kampagne, trotz Einschüchterungen und Drohungen sind Liu Xiaobo und das Nobelpreis-Komitee nicht geschlagen. Denn im ansonsten vollbesetzten Rathaus von Oslo steht der leere Stuhl Liu Xiaobos für weitaus mehr als nur für einen abwesenden Preisträger.

Er steht für die Tausenden Gewissensgefangenen, die in chinesischen Gefängnissen sitzen oder unter Hausarrest stehen. Sie sind Opfer politischer und juristischer Verfolgung - einzig weil sie den Mut hatten, öffentlich Stellung zu beziehen.

Der Stuhl steht für Menschen wie Tian Xi, der wegen einer Gesetzeslücke festgehalten wird. Ihm droht lebenslange Lagerhaft, weil er für Schadenersatz gekämpft hatte, nachdem er als Kind durch eine Bluttransfusion mit HIV und Hepatitis infiziert wurde.

Der Stuhl ist ein Symbol für Menschen wie Zhao Lianhai, der zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, weil er Gerechtigkeit für zahllose, durch verschmutztes Milchpulver erkrankte Babys einforderte.

Die seltsame Angst der mächtigen Nation

Der Stuhl erinnert auch an Chen Guangchen, einen blinden Menschenrechtsaktivisten, der unter Hausarrest gestellt wurde, nachdem er vier Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Er war verurteilt worden, weil er sich in einem Rechtsstreit gegen staatliche Zwangssterilisierungen und -abtreibungen bei Tausenden von Frauen in der Provinz Shandong eingesetzt hatte.

Salil Shetty

Salil Shetty, Generalsekretär von Amnesty International.

(Foto: Amnesty International)

Der leere Stuhl Liu Xiaobos wird so zu einem Mahnmal für den Versuch Chinas, die internationale Gemeinschaft durch politischen Druck und mit Hilfe seiner wirtschaftlichen Stärke zum Boykott der diesjährigen Verleihung zu bewegen und diese so zu sabotieren. Dass Peking nur wenige Staaten davon überzeugen konnte, zeigt, wie inakzeptabel diese Forderung war. Regierungen und internationale Institutionen müssen dieser Art von Erpressung auch künftig widerstehen.

Zum 60. Jubiläum des Menschenrechtstages, der jedes Jahr am 10. Dezember gefeiert wird, lenkt Chinas Verhalten die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die katastrophale Menschenrechtssituation in diesem Land. Die Welt denkt an die Millionen Menschen, die durch riesige Bauprojekte gezwungen wurden, ihre Häuser zu verlassen. Die Welt erinnert sich an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, an die Menschenrechtsverletzungen in Tibet und an die anhaltende Verfolgung der Falun-Gong-Bewegung.

Es mutet seltsam an, dass eine so starke und mächtige Nation wie China sich von einem einzelnen Menschen derart bedroht fühlt. Die Wahrheit ist, dass Liu Xiaobo für mehr steht als nur für einen Einzelnen. Er verkörpert die Ideale des Friedensnobelpreises sowie die Hoffnungen und Bestrebungen von Millionen Chinesen, die derzeit unter dem Druck der Pekinger Regierung zum Schweigen gezwungen sind.

Chinas Regierung ist es zwar gelungen, den Stuhl Liu Xiaobos leer zu halten. Doch in Abwesenheit Lius spricht dieser Stuhl Bände.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: