Niqab, Hidschab, Burka:Stoff für viel Streit

Niqab, Hidschab, Burka: Nur etwa 100 bis 300 Frauen in Deutschland sollen den Niqab tragen, sagen Islamwissenschaftler.

Nur etwa 100 bis 300 Frauen in Deutschland sollen den Niqab tragen, sagen Islamwissenschaftler.

(Foto: AFP)

Sind sie Ausdruck individuellen Glaubens? Ein politisches Statement? Oder gar Mittel aggressiver Missionierung? Hidschab, Niqab und Burka spalten die Öffentlichkeit - eine aufgeregte Debatte, in der alle ein bisschen recht haben.

Von Moritz Baumstieger

Die statistische Realität hat der Debatte um Burka-, Niqab- und Burkini-Verbot bisher nichts anhaben können. Sie sieht so aus: Die Burka, der hellblaue Ganzkörperschleier, kommt in Deutschland quasi nicht vor. Der Burkini - das Kopf, Arme und Beine bedeckende Schwimmkleid - ist eher aus den Nachrichten bekannt als aus dem Freibad. Und der Niqab, der Vollschleier, der nur einen Streifen für die Augen freilässt? Etwa 100 Frauen sollen ihn in Deutschland tragen, sagen Islamwissenschaftler, andere kommen auf den dreifachen Wert. Selbst diese Zahl ist lächerlich klein, um Grundlage für eine nationale Debatte zu sein.

Doch der Schleier bietet genug Stoff zum Streit. Ein "Leichentuch für Frauen" (Alice Schwarzer) erkennen die im Niqab, die unterdrückte Muslimas vor Ehemännern und Vätern retten wollen. Einen Ausdruck individuellen Glaubens jene, die ihn selbst tragen oder die religiöses Leben nicht einschränken wollen. Für ein fast schon verfassungsfeindliches Symbol halten ihn andere. Bemerkenswert ist an dieser aufgeregten Debatte, dass alle ein bisschen recht haben. Trotz ihrer äußerlichen Uniformität sind die Motive der Trägerinnen durchaus individuell.

Konkretes Symbol für eine abstrakte Gefahr

"Der ganze Streit ist eine Stellvertreterdiskussion", findet Sineb El Masrar. Die 34-Jährige ist Muslima und Feministin, war Mitglied der Islamkonferenz des Innenministeriums und hat dieses Jahr das Buch "Emanzipation im Islam" veröffentlicht, in dem sie über die Rolle der Frau im Islam aus theologischer und historischer Sicht schreibt.

Das eigentliche Problem, sagt sie, seien nicht ein paar Quadratzentimeter Haut zu wenig am Strand oder Stoff zu viel vor Gesichtern. "Anstatt uns auf den Niqab zu stürzen, sollten wir überlegen, welche islamischen Geisteshaltungen zu Deutschland gehören und welche Grenzen wir aufzeigen sollten", sagt El Masrar. "Diese Diskussion haben wir jahrelang verweigert." Jetzt aber, nach den Terrorerfahrungen der vergangenen Monate, treibe die Diskussion etwas anderes, meint der Islamwissenschaftler Udo Steinbach: "Der Niqab ist zum konkreten Symbol für eher abstrakte Gefahren geworden." Je stärker sich die Gesellschaft Bedrohungen ausgesetzt fühle, desto mehr geraten deren augenscheinliche Manifestationen ins Visier - dabei wäre nun ein guter Zeitpunkt, einmal hinter den Schleier zu blicken.

Für Steinbach ist der Niqab "eine radikale Absage an unsere Gesellschaft". Ein normales Kopftuch ermögliche einer gläubigen Muslima, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen, ähnlich sieht Steinbach den Burkini. Ein Niqab hingegen zeige, dass eine Frau sich nicht integrieren könne, "weil es durch familiäre Repression verhindert wird oder es am grundlegenden Verständnis der deutschen Kultur fehlt". Diese Analyse trifft eher auf Migrantinnen zu. Für manche in Deutschland geborene Muslima oder Konvertitin ist der Niqab jedoch ein bewusstes Zeichen, wo die Trägerin sich sehen will: außerhalb dieser Gesellschaft.

Ursprünglich war der Niqab nur in Saudi-Arabien verbreitet. Der dort praktizierte strenge wahabitische Islam wird aber seit dem Ölboom von rückkehrenden Gastarbeitern in deren muslimische Heimatländer gebracht, zudem unterstützen Stiftungen und Privatpersonen aus der Golfregion Institutionen auf der ganzen Welt, die den ultrakonservativen Islam des Salafismus fördern. Ihm zufolge bieten der Koran und das Beispiel des Propheten ein Rundum-Paket an Vorschriften, die das Leben bis ins kleinste Detail regeln. Von Menschen gemachte Gesetze sind im Prinzip überflüssig, Ziel sei "die vollständige Umgestaltung von Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft nach einem salafistischen Regelwerk, das als 'gottgewollte' Ordnung angesehen wird", schreibt der Verfassungsschutz.

Strenge Verschleierung bis hin zum Niqab bei Frauen, Gebetsmale auf der Stirn, Vollbärte mit freirasierten Oberlippen und knöchellange Hosen bei den Männern sind die Codes der Szene. Um ihr Ziel zu erreichen, ist die Mission eines der Kerngeschäfte der Salafisten, auf Arabisch "Da'wa". "Deren Fixierung darauf erinnert mich teils an ein Rabattkarten-System", sagt die Feministin El Masrar. "Für einen Muslim, den du auf den rechten Weg führst, gibt es zehn Punkte bei Allah, für einen Konvertiten zwanzig."

So initiieren salafistische Vereine Aktionen wie die "Lies!"-Kampagne, bei der sie den Koran in deutscher Sprache in Fußgängerzonen verteilen. Und aus diesem Grund sind sie überall da aktiv, wo sich junge Menschen Fragen zu ihrer Identität und zu ihrem Glauben stellen, vor allem im Internet. "Leider oft so ziemlich als Einzige", meint El Masrar, "außerdem sprechen sie oft als Einzige ein klares, einfaches Deutsch - und auch die Themen an, die andere Prediger umgehen."

Ein Niqab-Verbot kann das Problem des radikalen Islam nicht lösen

In den vergangenen Jahren wuchs ein Netzwerk aus Vereinen, Firmen, Moscheegemeinden und Organisationen zur Spendensammlung. Mit Erfolg: Zählte der Verfassungsschutz im Jahr 2011 noch 3800 Menschen zur Szene, waren es im Juni 2015 schon 7500. Wobei hier betont werden muss: Bei Weitem nicht alle Salafisten sind gewaltbereit, genau wie nicht alle Salafistinnen Niqab tragen.

Ihre Da'wa funktioniert jedoch nicht nur durch einfache Antworten auf komplizierte Fragen. Sondern auch durch ein Schüren von schlechtem Gewissen und sozialem Druck, die angeblich gottgewollten Regeln zu befolgen - was Kleidungsfragen natürlich einschließt. "Mir haben Frauen berichtet, dass sie an der Universität von Tuchträgerinnen angesprochen und getadelt werden. Das ist auch Mobbing", erzählt Sineb El Masrar. Bei solchen Personen geht das demonstrative Zurschaustellen der eigenen Religiosität über den Ausdrucks des eigenen Glaubens hinaus. Vermeintliche Äußerlichkeiten können zur permanenten und penetranten Ermahnung der angeblich weniger Gläubigen werden.

Wie die Gesellschaft mit dieser rückwärtsgerichteten, aber durch Missionierung Zulauf findenden Art des Islam insgesamt umgehen will, findet Sineb El Masrar diskussionswürdiger als deren Manifestation durch den Vollschleier. Über den zu streiten sei für alle bequem: "Die eine Seite tut so, als wäre durch ein Niqab-Verbot das Problem des radikalen Islam gelöst", sagt sie. "Und die muslimische Seite ist froh, dass sie eine Diskussion über ihr Verhältnis zum Salafismus umgehen kann, indem man über ein Stück Stoff streitet."

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