Niedersachsen:Teurer Frieden

Landtag Niedersachsen

Rot und schwarz, Seit an Seit: Ministerpräsident Stephan Weil (SPD, links) und Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) sitzen im Landtag von Hannover nebeneinander – und vertragen sich.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Im Landtag von Hannover lässt sich die Anpassungsfähigkeit von Politikern bestaunen. Nach Jahren der Feindschaft regieren SPD und CDU erstaunlich harmonisch. Aber nicht alles ist rosarot.

Von Thomas Hahn, Hannover

Die SPD-Abgeordnete Frauke Heiligenstadt ist viel zu höflich, als dass sie die Flüche aussprechen würde, die sie in Gedanken schon gegen ihren CDU-Kollegen Ulf Thiele gerichtet hat. Bis Oktober 2017 war sie Niedersachsens Kultusministerin in einer rot-grünen Koalition, und Thiele war einer ihrer hartnäckigsten Gegner. Als CDU-Generalsekretär prägte Thiele einen scharfen Oppositionskurs mit, der besonders auf die Bildungspolitik zielte. Thieles Zwischenrufe und Zuspitzungen müssen Frauke Heiligenstadt damals sehr auf die Nerven gegangen sein, eine Zusammenarbeit mit diesem Mann konnte sie sich "nie und nimmer" vorstellen. Und heute? Seit November regiert in Hannover eine rot-schwarze Koalition, Frauke Heiligenstadt und Ulf Thiele sind in ihren Fraktionen jeweils zuständig für die Haushaltspolitik. Den Nachtragshaushalt für 2018 haben sie zusammen ausgestaltet. Der einstige Gegner ist jetzt ihr Partner, und Frauke Heiligenstadt sagt: "Das klappt."

Wer etwas über die Anpassungsfähigkeit von Politikern lernen möchte, muss nach Niedersachsen schauen. Erbitterte Machtkämpfe zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb haben hier jahrzehntelang den politischen Alltag bestimmt. Gerade nach der Landtagswahl 2013, als SPD und Grüne den Wahlsieger CDU mit Einstimmenmehrheit auf die Oppositionsbank gedrängt hatten, wurde der Ton im Parlament sehr scharf. Im vergangenen Sommer erzwang die CDU schließlich Neuwahlen, indem sie die wechselwillige Grünen-Abgeordnete Elke Twesten aufnahm. Ein Wahlkampf entbrannte, in dem der SPD-Ministerpräsident Stephan Weil und der CDU-Spitzenkandidat Bernd Althusmann als scheinbar unversöhnliche Widersacher aufeinandertrafen.

"Solch eine hemmungslose Selbstbedienungsmentalität hätten wir nicht erwartet."

Weil gewann, aber die rot-grüne Mehrheit war weg. Die FDP verweigerte sich einer Ampelkoalition. Und so kam es zu dem Bündnis, das keiner für möglich gehalten hätte: Nach nur zweiwöchigen Verhandlungen stand der Groko-Vertrag. Weil blieb Ministerpräsident, Althusmann wurde sein Stellvertreter und Wirtschaftsminister.

Vier Monate sind seither vergangen, und es sieht so aus, als hätten die früheren Antipoden einen einvernehmlichen Arbeitsmodus gefunden - der zunächst aber vor allem teuer anmutet. Mit besagtem Nachtragshaushalt über 775 Millionen Euro hat Rot-Schwarz das Budget für 2018 auf 31,7 Milliarden anwachsen lassen und damit ein Zeichen gesetzt für Vorhaben wie gebührenfreie Kitas, mehr Lehrer oder mehr Polizisten. Ein Europaministerium ist ebenso entstanden wie 100 neue Stellen im Regierungsapparat geschaffen wurden, darunter zwei für das Management der VW-Beteiligung. FDP-Fraktionschef Stefan Birkner sagt: "Solch eine hemmungslose Selbstbedienungsmentalität hätten wir nicht erwartet." Und für Anja Piel, Fraktionschefin der Grünen, ist der Nachtragshaushalt ein Symbol für die fehlende Konfliktkultur in den Koalitionsverhandlungen: "Die haben sich einfach darauf verlassen, die Kompromisse, die noch offen sind, mit Geld zuzumachen."

Die Oppositionsparteien blicken auf einen rot-schwarzen Block mit 105 von 137 Sitzen im Landtag und finden wenig bis keine Schnittmengen. Zumal seit der Wahl die AfD im Landtag sitzt. Deren Fraktionschefin Dana Guth sagt: "Rot-Grün und Rot-Schwarz erscheinen in diesen Tagen sehr austauschbar." Die Grünen wiederum erleben mit Missvergnügen, wie Vorgaben zum Umwelt- oder Tierschutz, die unter Rot-Grün noch galten, jetzt in vagen Bekenntnissen verschwimmen und das Thema Inklusion an Schulen praktisch nicht mehr im Koalitionsvertrag zu finden ist. "Ich kann akzeptieren, wenn Landesregierungen Kurskorrekturen vornehmen", sagt Anja Piel, "aber wenn sie keinen Kurs haben - das finde ich schwierig."

Dirk Toepffer findet es ganz einfach, den Kurs der großen Koalition zu beschreiben. Natürlich, denn Toepffer ist seit Beginn der neuen Regierung der CDU-Fraktionsvorsitzende. Eigentlich ist er sogar mehr: eine Symbolfigur für den neuen guten Willen zwischen Rot und Schwarz. Er ist ein freundlicher, quirliger Hannoveraner, der die politische Auseinandersetzung nie mit Feindschaft verwechselt. Stephan Weil kennt er gut, er hat schon mal einen Bürgermeisterwahlkampf gegen ihn verloren. Sie duzen sich. Und als die Groko klar war, bat Althusmann sein Schattenkabinettsmitglied Toepffer, statt eines Ministeriums den Moderatorenjob im Fraktionengefüge zu übernehmen. Jetzt ist Toepffer neben der SPD-Fraktionschefin Johanne Modder der gute Geist des Bündnisses und verbreitet auch in der Öffentlichkeit sonnige Groko-Laune. "Man ist jetzt völlig überrascht, wie gut es funktioniert", sagt er.

Die Linie also. Toepffer überlegt keine Sekunde. "Die Linie ist, extrem viel ideologischen Ballast abzuwerfen und tatsächlich Probleme zu lösen." Grundsatzdebatten, in denen sich die politischen Lager immer aufrieben, sind ausgesetzt. Die ungleichen Partner arbeiten nicht an der großen Weltverbesserung mit Agrar- oder Verkehrswende, sondern eher an akuten Missständen. Deshalb findet es Toepffer zum Beispiel praktisch, dass der neue Umweltminister der vorherige Wirtschaftsminister ist. Olaf Lies (SPD) habe Verständnis für die Nöte der Wirtschaft. "Dadurch ist es einfach, den alten Konflikt zwischen Wirtschaft und Umwelt aufzulösen, indem man sinnvolle Kompromisse findet."

"Moral ist offensichtlich doch eine politische Kategorie für die Menschen."

Frauke Heiligenstadt sagt: "Es ist nicht alles rosarot." Unter anderem in der Asylpolitik gebe es weiter Unterschiede. Aber im Regierungsgeschäft geben die Vernünftigen eben nach. "Die Emotionen sind raus, weil wir uns gegenseitig respektieren in unseren unterschiedlichen Auffassungen", sagt Frauke Heiligenstadt. Dieser Frieden war kein Selbstläufer - das zeigt schon der Umstand, dass die neue Landesregierung eigene Koordinierungsstellen für die rot-schwarze Zusammenarbeit einrichtete. "Stimmt, das war auch ein Ausdruck von Unsicherheit", sagt Toepffer. "Ich weiß nicht, ob man das mit dem Wissen von 120 Tagen Koalitionsarbeit noch mal machen würde."

Niedersachsens CDU macht einen etwas demütigeren Eindruck seit der Wahlniederlage vom 14. Oktober nach zwischenzeitlichem Umfrage-Hoch. Althusmann leitete eine schonungslose Aufarbeitung ein. Vor allem die schnelle und nicht sehr feine Übernahme der Abtrünnigen Twesten wurde dabei als wahlentscheidende Vorlage für Stephan Weil ausgemacht. Der damalige Fraktionschef Björn Thümler und der damalige Generalsekretär Ulf Thiele wurden zur Verantwortung gezogen - ohne dass die CDU sie tief fallen ließ; Thümler ist jetzt Wissenschaftsminister, Thiele Vizevorsitzender der Fraktion. Aber die Union zog daraus eine Lehre, die Dirk Toepffer so formuliert: "Moral ist offensichtlich doch eine politische Kategorie für die Menschen." Viele CDU-Leute scheint diese Erkenntnis tatsächlich überrascht zu haben.

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