Bürgerkriegsähnliche Zustände:Aufstand der Jungen in Nicaragua

Proteste gegen Präsident Ortega in Nicaragua

Madelaine Caracas ist eine talentierte Künstlerin, seit April führt sie die Proteste gegen Präsident Ortega an. Und sie bangt um ihr Leben.

(Foto: Franklin Villavicencio)
  • Was als kleine Studentenbewegung begann, bringt inzwischen Nicaraguas Präsidenten Daniel Ortega in Bedrängnis.
  • Das Land, das in manchen Bereichen bisher als Positivbeispiel in Mittelamerika galt, steht kurz vor dem Bürgerkrieg.
  • 130 Menschen sind bei den Protesten ums Leben gekommen. Die Studentenführerin Madelaine Caracas fordert im Gespräch mit der SZ die EU-Staaten dazu auf, keine Waffen mehr in das Land zu liefern.
  • Es ist nicht auszuschließen, das auch mit diesen Waffen gerade auf die Demonstranten geschossen wird.

Von Benedikt Peters

Bis vor kurzem war Junior Gaitán einfach nur ein Schüler, er besuchte das Instituto Central in Masaya, einer 140.000-Einwohner-Stadt im Südwesten Nicaraguas. Seit vergangener Woche ist Gaitán der Junge, der auf der Straße vor einem Polizisten niederkniete und ihn anflehte, ihn am Leben zu lassen. Und dem der Polizist dann zwei Kugeln in die Brust jagte, aus nächster Nähe. Menschenrechtsorganisationen und seriöse nicaraguanische Medien schreiben, es war eine "Hinrichtung". Junior Gaitán wurde 15 Jahre alt.

Was gerade in Nicaragua passiert, hielten Beobachter vor wenigen Monaten noch für unvorstellbar. Ja, es gab Berichte darüber, dass der frühere linke Guerillero Daniel Ortega es als Präsident nicht so genau nehme mit der Demokratie. Dass er seit seiner Rückkehr in das Amt 2006 immer wieder die Opposition und Medien gängelte und die Stimmen bei Wahlen nicht unbedingt sorgfältig auszählen ließ. Ihm wurde Korruption nachgesagt, und einige Nicaraguaner waren mit der Regierung unzufrieden, etwa, weil ein zwielichtiges Kanalbauprojekt sie misstrauisch machte.

Andererseits aber liefen manche Dinge im Land der Sandinisten in den letzten Jahren besser als in anderen gebeutelten Staaten Mittelamerikas. Die Vereinten Nationen bescheinigten Ortega Fortschritte im Bildungs- und im Gesundheitssystem, und die Kriminalitätsstatistik sah um ein Vielfaches besser aus als in einigen Nachbarländern. In Nicaragua wurden in den vergangenen Jahren zum Beispiel deutlich weniger Menschen ermordet als in Honduras oder El Salvador, wo Banden wie die Mara Salvatrucha ihr Unwesen treiben. Gar nicht zu reden erst von Mexiko, wo seit Jahrzehnten ein Drogenkrieg wütet.

Madelaine Caracas, 20 Jahre, führt die Proteste mit an - und bangt um ihr Leben

Seit April aber ist in Nicaragua alles anders. Es ist wohl sicher, dass das Land auf absehbare Zeit nicht mehr als Positivbeispiel herhalten wird, wenn von einer niedrigen Mordrate die Rede ist. Nicaragua steht am Rande eines Bürgerkriegs. Immer wieder gehen hunderttausende Menschen auf die Straßen. Demonstranten errichten Straßenblockaden und riegeln ganze Stadtviertel ab, an manchen Orten werden die Lebensmittel knapp.

Die Demonstranten wollen die Blockaden trotzdem nicht aufgeben, weil sie fürchten, von der Polizei oder von regierungsnahen Schlägertrupps umgebracht zu werden. Weit hergeholt ist das nicht, denn die Ermordung Junior Gaitáns ist kein Einzelfall. Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International, berichten von mehr als 130 Toten bei den Protesten. Viele der Getöteten sind noch jung, gingen noch zur Schule oder studierten.

Die Proteste gegen Ortega wurden von Studenten losgetreten, mit denen sich nach und nach immer mehr Menschen solidarisiert haben. Insofern erinnert das, was gerade in Nicaragua passiert, an die Studentenbewegung in Chile, die zuletzt 2011 die Regierung in Santiago in Bedrängnis brachte. Der Unterschied ist nur, dass die chilenische Polizei vornehmlich mit Schlagstöcken und Tränengas gegen die Demonstranten vorging. Die nicaraguanischen Kollegen nutzen lieber Pistolenkugeln.

Madelaine Caracas ist eine der Studentinnen, die die landesweiten Proteste anführt. Sie hat bereits einige Bekannte bei den Demonstrationen verloren, manche verschwanden, von anderen fand man die Leichen. Wiederum andere tauchten nach Tagen wieder auf und berichteten, sie seien in "El Chipote" gefoltert worden, einem Gefängnis in der Hauptstadt Managua. "Die Regierung begeht niederträchtigste Verbrechen", sagt Caracas.

Am Telefon wirkt sie vergleichsweise ruhig, was wohl auch damit zu tun hat, dass sie gerade durch Europa tourt und Vorträge hält, um auf die Lage in ihrer Heimat aufmerksam zu machen. Wenn sie in Nicaragua ist schläft sie aber lieber nicht mehr zu Hause, sondern in "Casas de Seguridad", wie sie sagt. Sicheren Häusern von Unterstützern also. Sie hofft, dass die Polizei sie dort nicht findet.

Schon vor den Protesten war Caracas nicht gänzlich unbekannt in Nicaragua. Ein örtlicher Fernsehsender feierte die 20-Jährige vergangenen Sommer als "künftige Ikone der plastischen Kunst". Caracas malt und bildet Skulpturen, darin beschäftigt sie sich mit der Rolle der Frau oder mit gesellschaftlichen Minderheiten, etwa der Indigenen. "Ich war immer ein politischer Mensch", sagt sie.

Seit April aber erlangte Caracas eine Bekanntheit, auf die sie selbst wahrscheinlich gern verzichten würde. Nachdem sie damit begonnen hatte, den Protest zu organisieren, veröffentlichten regierungstreue Medien ihr Foto und die Namen ihrer Angehörigen, um sie zu denunzieren. Caracas selbst sieht darin nicht weniger als ein Aufruf zum Mord.

EU-Staaten lieferten in den letzten Jahren Waffen - nicht auszuschließen, dass mit ihnen jetzt auf Demonstranten geschossen wird

Das, was inzwischen eine Massenbewegung ist, begann mit einem kleinen Protest gegen einen Großbrand im Bioreservat Indio Maiz. Die Regierung kümmerte sich tagelang nicht darum, das Feuer zu löschen, mehrere tausend Quadratkilometer des unter Naturschutz stehenden Areals wurden zerstört, den Schaden hatten die dort lebenden Indigenen. Mit anderen Studenten ihrer Universität ging Caracas auf die Straße, um darauf aufmerksam zu machen.

Schon damals, Anfang April, schickte die Regierung Polizisten und Schlägertrupps, um gegen die Studenten vorzugehen. Das empörte viele Nicaraguaner. Als die Regierung dann auch noch bekannt gab, die Rentenbeiträge erhöhen zu wollen und gleichzeitig die Auszahlungen zu kürzen, da schwoll der Protest immer weiter an - und mit ihm auch die Zahl der Toten.

Offiziell weist die Regierung jede Verantwortung für die Morde von sich. Ortegas Ehefrau und Stellvertreterin Rosario Murillo sprach davon, die Demonstranten hätten sie bloß "erfunden". Dagegen sprechen zahlreiche Augenzeugenberichte, Videos und Untersuchungen von Menschenrechtsorganisationen. Amnesty International etwa hat Dokumente veröffentlicht, die zeigen, wie Vermummte auf Demonstranten schießen und Polizisten dabei seelenruhig zuschauen. Auf anderen Aufnahmen schießen die Polizisten selbst. Zudem zeige sich bei den Getöteten ein Muster, die Kugeln träfen nahezu immer präzise in Brust und Kopf. Das deute auf professionelle Schützen hin, schreibt Amnesty.

Madelaine Caracas will weiter protestieren, bis Ortega zurücktritt und eine internationale Kommission eingesetzt wird, die die Verbrechen rund um die Proteste aufklärt. Ob sie Erfolg hat, ist aber fraglich. Ortega ist zwar geschwächt, in Nicaragua verliert er Verbündete, international haben die UN, der Vatikan, die USA, das Europäische Parlament die Gewalt verurteilt. Doch ein Dialog mit den Studenten ist vorerst gescheitert. Das Töten geht weiter.

Mit ihrer Reise will Caracas erreichen, dass die Europäische Union den diplomatischen Druck auf Ortega erhöht. Und sie bittet die Mitgliedsländer, zu überdenken, was sie eigentlich wohin exportieren. EU-Staaten lieferten in den vergangenen Jahren Waffen nach Nicaragua, Spanien schickte Tränengasgranaten und Munition, aus Tschechien kamen Pistolen. Es ist nicht auszuschließen, dass damit jetzt auf die Studenten geschossen wird. Oder auf Schüler wie Junior Gaitán.

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