Neuer Präsident für Tunesien:Wunsch nach einer Vaterfigur

Beji Caid Essebsi, leader of Tunisia's secular Nidaa Tounes party and presidential candidate, speaks during a campaign event in Sfax

Der Favorit für das Präsidentenamt, Beji Caid Essebsi, wird bald 88 Jahre alt.

(Foto: Reuters)

Die Tunesier wählen Sonntag einen neuen Präsidenten. Der Favorit feiert bald seinen 88. Geburtstag. Doch Islamisten drohen mit einem Blutbad, sollte Essebsi tatsächlich gewählt werden.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Dem 87-Jährigen bricht die Stimme, als er am Marmor-Sarg von Habib Bourguiba steht, dem Gründervater des modernen Tunesiens, und die Fatiha zitiert, die erste Sure des Koran. Der Betende, Beji Caïd Essebsi, diente dem Mann im Sarg schon in den Sechzigerjahren als Innen- und Verteidigungsminister, später als Botschafter in Paris und Außenminister. Auf dem Vorplatz von dessen Mausoleum hat er nun am 2. November seinen Wahlkampf um das Präsidentenamt eröffnet - die Botschaft verstand jeder im Land.

Viele der 5,2 Millionen registrierten Wähler scheinen sich eine Vaterfigur zu wünschen im höchsten Staatsamt, über dessen Besetzung sie am Sonntag zum ersten Mal frei und demokratisch abstimmen können. Genau das bedient Essebsi mit seiner Inszenierung.

Zwar wird Bajbouj, wie ihn viele seiner Landsleute nennen, am 29. November bereits 88 Jahre alt. Doch kann er sich nach der Parlamentswahl vor vier Wochen gute Chancen ausrechnen, unter den verbliebenen 23 Kandidaten die meisten Stimmen zu holen und in die wohl unausweichliche Stichwahl Ende Dezember zu kommen. Die von ihm gegründet Partei Nidaa Tounes, Ruf Tunesiens, hatte 86 der 217 Mandate erhalten - mit einer Kampagne, die ganz auf seine Person zugeschnitten war.

Die Wahl betrachten viele als Grundsatzentscheidung

Seine Botschaft: Jede Stimme, die nicht an Nidaa geht, ist eine Stimme für die Islamisten von Ennahda. Der Polit-Veteran hatte ein Gespür dafür, dass viele Bürger die Wahl als Grundsatzentscheidung betrachteten über die künftige Prägung ihrer Gesellschaft - und die konservativ-islamischen Vorstellungen von Ennahda zurückweisen wollten. Da konnten die Islamisten tausendfach beteuern, weder den säkularen Staat schleifen noch die Rechte von Frauen beschneiden zu wollen. Essebsi hat seine Angriffe trotzdem fortgeführt und die islamistische Gefahr beschworen.

Dabei hat Ennahda für diese Wahl gar keinen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt. Der einstige Premier und Innenminister Ali Larayedh begründete dies auch mit den Lehren aus Ägypten, wo das Militär die Muslimbrüder und den Islamisten-Präsidenten Mohammed Mursi mit Gewalt von der Macht verjagt hat. Eine islamische Partei solle nicht anstreben, die Politik zu dominieren, sagte er - noch in der Erwartung, wieder die stärkste Kraft zu werden. Nun muss Ennahda hoffen, mit dem Ruf nach einer Regierung der nationalen Einheit Gehör zu finden - oder zu einem anderen Arrangement mit Essebsi zu gelangen, um ihren Einfluss zu wahren.

Es ist möglich, dass ein Kabinett ohne die Islamisten gebildet wird. Die Gespräche über mögliche Koalitionen laufen. Und ihr Ausgang wird maßgeblich davon abhängen, wie die erste Runde der Präsidentenwahl ausgeht. Der politische Preis für Ennahda ist, dass sie darauf verzichten muss, öffentlich ihre Unterstützung für einen von Essebsis Konkurrenten zu erklären.

Supporters of Tunisia's President Marzouki react during his campaign rally at Hai al Tadamon in Tunis

Ein Anhänger des amtierenden und nun wieder kandidierenden Präsidenten Marzouki in Tunis.

(Foto: Anis Mili/Reuters)

Der Konkurrent sucht die Nähe der Islamisten

Der schärfste Konkurrent ist Moncef Marzouki - ihn würden auch die Islamisten präferieren. Der 69 Jahre alte Übergangspräsident und Chef der bei der Parlamentswahl abgestraften Partei Kongress für die Republik war von Ennahda ins Amt gehoben worden. Im Wahlkampf sucht Marzouki, der lange im französischen Exil lebte, erkennbar die Nähe der Islamisten - obwohl er deren Ideologie kaum teilt. Er tritt gemeinsam mit Imamen auf, die öffentlich die Verfassung als unvereinbar mit dem Islam kritisieren. Die Polarisierung hat sich erheblich aufgeschaukelt. Anführer der im Mai verbotenen Liga zum Schutz der Revolution, einer von Islamisten durchsetzten Miliz, drohen damit, es werde ein Blutbad geben, sollte Essebsi gewählt werden. Der betont nur zu gerne, er würde Vertreter der Liga als Präsident nicht empfangen - anders als Marzouki.

Marzouki wiederum ruft bei seinen Kundgebungen die Tunesier auf, "mit der Vergangenheit zu brechen und eine Rückkehr des alten Regimes zu verhindern". Das zielt auf Nidaa Tounes - und auf Essebsis Vergangenheit. Der hatte in den ersten Jahren des gestürzten Diktators Zine el-Abidine Ben Ali immerhin noch dem Marionetten-Parlament präsidiert und war der Systempartei RCD beigetreten, bevor er sich 1991 aus der Politik zurückzog. Auch haben in seiner Partei, einer recht heterogenen säkularen Sammlungsbewegung, manche frühere RCD-Leute eine neue politische Heimat gefunden. Diese beschimpft Marzouki gerne als Taghut - einem aus dem Koran entlehnten Begriff, der Überschreitungen wie die Götzenverehrung bezeichnet. Islamisten auch der radikaleren Sorte benutzen ihn, um als korrupt empfundene Systeme zu brandmarken.

Die Bewältigung der Diktaturzeit beginnt erst jetzt

Marzouki spricht damit zumindest ein Thema an, über das viele Tunesier lieber schweigen: die Bewältigung der Vergangenheit unter der Diktatur. Sie beginnt gerade erst, bald vier Jahre nach der Revolution. Im Dezember nimmt die Instance vérité et dignité ihre Arbeit auf, Tunesiens Wahrheitskommission, vergleichbar der Stasi-Unterlagenbehörde. Unter der Leitung der streitbaren Menschenrechtlerin und Journalistin Sihem Bensedrine wird das 15-köpfige Gremium alle hohen Amtsträger darauf überprüfen, ob sie an Verbrechen des Ben-Ali-Regimes beteiligt waren. Sie kann die Suspendierung von Funktionären verlangen, sei es wegen Menschenrechtsverletzungen oder Korruption. "Selbst wenn es der Präsident ist - wir haben keinen Angst", sagt Bensedrine. Die "Maschinerie der Diktatur auseinandernehmen" - so begreift sie ihre Mission. Freie und faire Wahlen seien entscheidend für einen gelungenen Übergang zu Demokratie. "Am Ende aber", sagt sie, "brauchen wir Gerechtigkeit, damit die Gesellschaft den Frieden mit sich selbst finden kann."

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