Neue Abgeordnete:Starterkit für alle

Aktuelles Lexikon: Reichstag

Es ist ein deutscher Sehnsuchtsort. 4828 Menschen haben in den vergangenen Monaten viel getan, um einen der blauen Stühle in dem Gebäude zu ergattern, das wie kein anderes den deutschen Parlamentarismus symbolisiert. Der Reichstag ist seit 1999 Heimat des Bundestages. Erbaut hat ihn Paul Wallot im europäischen Kolonialstil, eröffnet 1894 Kaiser Wilhelm II., Philipp Scheidemann rief hier 1918 die Republik aus. Der Reichstagsbrand von 1933 ist Sinnbild für die Zerstörung der Demokratie durch die Nationalsozialisten. Nach dem Krieg richtete die Bundesrepublik den Bau bescheiden her, ehe ihn 1995 Christo und Jeanne-Claude verhüllten und Norman Foster später mit einer Glaskuppel krönte. Darin schrauben sich bis spät in die Nacht die Menschen nach oben, was sich vom Sofa aus beobachten lässt, wenn die Kuppel als Kulisse für eine TV-Liveschaltung dient. Gut eine Million Bürger besuchen jährlich den Reichstag, und vielleicht ist hin und wieder jemand dabei, der dort zur Welt kam. Während des Zweiten Weltkriegs war ein Teil der Gynäkologie der Charité in den Keller ausgelagert. Über der einstigen Geburtsstation könnte es nun so eng werden wie noch nie, obwohl der heutige Plenarsaal fast doppelt so groß ist wie der von Wallot entworfene. Je nach Wahlausgang drängen sich hier womöglich fast 700 Abgeordnete, wenn sich demnächst der 19. Bundestag konstituiert. Bernd Kastner

Am Dienstag treffen sich die neu gewählten Abgeordneten zu ersten Fraktionssitzungen, darunter auch Dutzende, die zum ersten Mal ein Mandat erhalten haben. Was neue Parlamentarier zur Premiere im Bundestag erwartet.

Von Sebastian Jannasch, Berlin

Der erste Tag im neuen Job ist immer eine nervenaufreibende Mischung aus Schaulaufen und stiller Beobachtung. Wie wirkt man engagiert und sympathisch, ohne überambitioniert und aufdringlich zu erscheinen? Sind die Kollegen nett? Wer hat etwas zu sagen, wer tut bloß so? Für jene Jobnovizen, die am Dienstag ihren künftigen Arbeitsplatz in Berlin in Augenschein nehmen werden, kommt der Umstand hinzu, dass sich ihre Jobpremiere in der Öffentlichkeit vollzieht. Denn ihr Arbeitsort ist der Deutsche Bundestag.

Am Dienstag treffen sich die gewählten Abgeordneten zu ersten Fraktionssitzungen, darunter sind Dutzende, die zum ersten Mal ein Mandat erhalten haben. Damit sie sich möglichst schnell im Labyrinth des Parlamentarismus zurechtfinden, haben die Bundestagsverwaltung und die Fraktionen den Neulingen bereits Pakete mit Informationen, Broschüren, Gesetzestexten und Kalendern geschnürt - es ist eine Art Schultüte für Volksvertreter. Ihre Auftaktveranstaltung halten die meisten Fraktionen in den Sälen auf der Fraktions- oder Präsidialebene des Bundestags ab. Davor warten Mitarbeiter der Verwaltung an langen Tischen, um den Abgeordneten ihre Starterkits zu überreichen.

Neben Glückwunschschreiben gehört dazu ein vorläufiger Abgeordnetenausweis, der den Zutritt zum Bundestag ermöglicht. Dazu gibt es Formulare für die Bahncard 100 erster Klasse, Infos zur Fahrbereitschaft und zu den Kantinen. Außerdem wird der Wälzer "Wegweiser für Abgeordnete" verteilt, in dem der gesamte Parlamentsbetrieb erläutert ist. Aus den Broschüren erfahren die Volksvertreter beispielsweise, dass ihnen jährlich 12 000 Euro für die Ausstattung des Büros zur Verfügung stehen und dass ihnen 200 Euro von der Kostenpauschale abgezogen werden, wenn sie an Sitzungstagen unentschuldigt fehlen.

Wer einen Sprecherposten ergattert, sichert sich Präsenz in den Medien

Zusätzlich organisieren die meisten Fraktionen einen Austausch mit erfahrenen Abgeordneten und eigene Willkommensveranstaltungen. Bei der SPD und der CDU/CSU gibt es jeweils am Mittwoch Workshops mit der parlamentarischen Geschäftsführung. Bei den Linken geben die Fraktionschefs Tipps, wie man die Arbeit im Parlament organisiert. Thema ist dabei auch, welche Pflichten Abgeordnete als Arbeitgeber ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiter und Bürokräfte haben. Etwa 20 000 Euro stehen ihnen für das Personal monatlich zur Verfügung.

Obwohl voraussichtlich noch nicht alle Abgeordneten ihre endgültigen Büroräume bezogen haben werden, wenn der Bundestag spätestens 30 Tage nach der Wahl zur konstituierenden Sitzung zusammenkommt, bleiben sie in den nächsten Wochen nicht untätig. Sie schreiben ihre Kurzbiografie für das "Kürschner" genannte, traditionsreiche Handbuch mit allen Abgeordneten, dessen Inhalt viele inzwischen aber auf der Website des Bundestags lesen. Vor allem jedoch gilt es, bei den Fraktionsspitzen Werbung in eigener Sache zu machen und zu platzieren, für welche Ausschüsse man sich interessiert. Wer einen Sprecherposten für ein wichtiges Thema wie Finanzen oder Inneres ergattert, sichert sich für die kommenden Jahre Präsenz in den Medien.

Für viele Neulinge steht aber zuerst die Wohnungssuche an. Wichtig dabei: Volksvertreter, die ihren Hauptwohnsitz in ihrem Wahlkreis irgendwo in der Republik haben, müssen ihre Berliner Unterkunft als Zweitwohnsitz anmelden - und dafür fünf Prozent der Kaltmiete als Steuer abführen. In den vergangenen Jahren gab es in fast allen Fraktionen Abgeordnete, die ihre Wohnung nicht registriert hatten und sich mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung in den Zeitungen wiederfanden - und das ist nun wirklich kein guter Einstand.

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