Negatives Stimmgewicht:Paradoxie des Wahlrechts

Das Bundesverfassungsgericht hat Teile des Bundestagswahlrechts für verfassungswidrig erklärt. Das Übel liegt im sogenannten negativen Stimmgewicht. Doch was steckt dahinter?

Wolfgang Jaschensky

Das deutsche Wahlrecht ist kompliziert. Welche Kuriositäten es in sich trägt, hat eine Nachwahl zur Bundestagswahl 2005 gezeigt. Damals hatte sich die CDU in Sachsen mit einem geringen Zweitstimmenanteil ein zusätzliches Mandat im Bundestag gesichert. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts verstößt dies gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl.

Was ist ein negatives Stimmgewicht?

Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ulrich Voßkuhle, sprach bei der Urteilsverkündung von einer "Paradoxie" des geltenden Wahlrechts. Das Paradoxe ist, dass eine Partei Mandate verlieren kann, obwohl sie Wählerstimmen gewonnen hat oder Mandate gewinnen kann, obwohl sie Stimmen verloren hat. Dieser Effekt ist als "negatives Stimmgewicht" bekannt. Aus Sicht eines Wählers kann das dazu führen, dass er der von ihm favorisierten Partei schadet, wenn er sie wählt beziehungsweise ihr hilft, wenn er sie nicht wählt.

Bei dem Fall der Bundestagswahl 2005, zu dem das Bundesverfassungsgericht sein Urteil sprach, wurde diese Paradoxie besonders offensichtlich. In Sachsen wurde durch den Tod einer NPD-Wahlkreiskandidatin eine Nachwahl angesetzt. Da die Ergebnisse der bundesweiten Wahl bekannt waren, konnte berechnet werden, unter welchen Voraussetzungen ein "negatives Stimmgewicht" eintreten kann.

So konnte der Wähler vor der Nachwahl wissen, dass die CDU bei einer Zweitstimmenanzahl von mehr als 41.225 Stimmen ein Mandat verlieren könnte, bei weniger Stimmen hingegen ein Mandat gewinnen könnte. Damit hatten CDU-Wähler einen Anreiz, nicht zu wählen - und SPD-Anhänger hätten sogar auf die Idee kommen können, die CDU zu wählen, um ihr zu schaden. Der demokratische Wettbewerb um Zustimmung wird so karikiert.

Wie kann es zu einem negativen Stimmgewicht kommen?

Zur Erklärung des negativen Stimmgewichts muss man zunächst wissen, was ein Überhangmandat ist. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erzielt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil Sitze zustehen. Jeder Kandidat, der mit der Erststimme in seinem Wahlkreis direkt gewählt ist, hat das Recht, auch in den Bundestag einzuziehen. Entscheidend für die Sitzverteilung insgesamt ist aber die Zweitstimme.

Normalerweise wird die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten von der Zahl der Sitze abgezogen, die einer Partei nach ihrem Zweitstimmenergebnis im jeweiligen Bundesland zusteht. Die übrigen Plätze werden dann mit Abgeordneten der Landesliste einer Partei besetzt. Wenn es aber mehr direkt gewählte Abgeordnete gibt, als der Partei nach den Zweitstimmen zustünden, entstehen die Überhangmandate.

Das Phänomen des negativen Stimmgewichts kann in verschiedenen Varianten auftreten. Hier zur Erklärung ein Beispiel: Zwei Parteien erhalten bei einer Bundestagswahl die gleiche Zahl an Stimmen und die gleiche Zahl an Sitzen im Parlament. Wenn nun eine Partei in einem Bundesland weniger Stimmen erhält, kann es dazu führen, dass sie aufgrund der Zweitstimmen in diesem Bundesland einen Sitz verliert, in einem anderem Bundesland diesen Sitz aber wieder zugeschlagen bekommt. Damit hätte der Stimmverlust auf die absolute Sitzverteilung keinen Einfluss.

Paradox wird es allerdings, wenn die Partei in dem Bundesland, in dem sie die Stimmen verloren hat, so viele Direktmandate hat, wie ihr ohne Stimmverlust zugestanden hätten. Dann nämlich entsteht ein zusätzliches Überhangmandat und die Partei kann aufgrund des Stimmverlustes einen zusätzlichen Abgeordneten ins Parlament entsenden.

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