Naziverbrecher vor Gericht:Die Justiz ist williger als je zuvor

Nach dem Krieg war die deutsche Justiz als "Mörderwaschmaschine" verschrieen. Erst dem großen Juristen Fritz Bauer und den Auschwitz-Prozessen ist es zu verdanken, dass Mord in der Strafverfolgung nicht verjährt. Heute geht es nicht mehr darum, greise Nazitäter zur Höchststrafe zu verurteilen, sondern als Rechtsstaat ein Zeichen zu setzen.

Ein Kommentar von Joachim Käppner

Die Anklage fordert lebenslange Haft wegen Mordes, das Urteil soll Anfang Januar ergehen. Die Tat liegt fast sieben Jahrzehnte zurück, der Angeklagte ist 92 Jahre alt und steht in Hagen vor Gericht. Er soll als SS-Mann an der Exekution eines niederländischen Widerstandskämpfers beteiligt gewesen sein.

Welchen Sinn hat es noch, Greise zur Höchststrafe zu verurteilen, die vielleicht wegen ihres körperlichen Zustandes niemals antreten müssen? Es geht, so paradox das klingen mag, gar nicht so sehr um die alten Männer selbst; es ist nicht entscheidend, ob sie eine Zelle beziehen oder als verurteilte Mörder zu Hause sitzen und die Ungerechtigkeit der Welt beklagen. Entscheidend ist das Zeichen, das der Rechtsstaat setzt: Mord verjährt nicht, und die Schuldigen werden sich verantworten müssen, solange das möglich ist.

Das ist, in dieser Konsequenz, dem großen Juristen Fritz Bauer zu verdanken. Er hat die Strafverfolgung nach dem Krieg mit aller Kraft forciert, ohne ihn wären die Auschwitz-Prozesse, die vor 50 Jahren begannen, nicht möglich gewesen. Vor Gericht standen Mittäter des Holocaust, die im größten Vernichtungslager Dienst getan hatten und sich mit Begründungen verteidigten wie der frühere "Schutzhaftlagerführer" Franz Johann Hofmann: "Wenn ich einen Posten übertragen bekomme, ganz gleich, wo es auch sein mag, dann versuche ich, denselben hundertprozentig auszufüllen." Befehl sei eben Befehl. Die Verfahren, die Jahre dauerten, bewiesen bei allen Mängeln das Gegenteil: Ein Befehl kann nicht einfach das Gewissen und die persönliche Verantwortung des Einzelnen für das eigene Handeln ersetzen.

Die Mängel: zu wenig, zu spät, zu halbherzig. Eine Justiz, durchsetzt von ehemals braunen Mitläufern und sogar Tätern. Eine Gesellschaft, die nichts hören will von den Verbrechen, die Deutsche von 1933 bis 1945 begangen haben: All das hat die Auschwitz-Prozesse geprägt, das wurde schon damals, 1963, heftig beklagt. Und all diese Kritik ist leider völlig berechtigt - und doch nur Teil des Bildes.

War die bundesdeutsche Justiz wirklich eine "Mörderwaschmaschine", wie der Publizist Günther Schwarberg einmal voll Bitterkeit geschrieben hat? Millionen Toten stehen ein paar Tausend Strafurteile gegen Nazitäter gegenüber, gesprochen in der Bundesrepublik und der DDR (die entgegen der offiziellen Propaganda auch kein Interesse hatte, eigene Staatsbürger en masse wegen NS-Gräueln anzuklagen). Seit den Auschwitz-Prozessen aber, so mangelhaft sie vielfach waren, sind immer mehr Nazitäter vor Gericht gestellt worden.

Ein Bruchteil derer nur, die es verdient hätten, gewiss; allein an der Organisation des Holocaust waren ja Hunderttausende beteiligt. Aber 1963 hatte der Gesetzgeber die Möglichkeit schon drastisch eingeschränkt, Helfer und Schreibtischtäter zu verfolgen, dafür kann die Justiz nichts. Und zu allen Zeiten gab es Staatsanwälte wie Bauer, die alles taten, um ehemalige SS-Killer und Lynchmörder vor Gericht zu stellen. Im Münchner Demjanjuk-Verfahren haben die Strafverfolger ihre Möglichkeiten noch erweitert, weil sie vom Nachweis einer einzelnen Mordtat abrückten, wenn der Angeklagte Teil einer organisierten Maschinerie des Massenmordes war.

So bleibt ein melancholisches Paradox: Am Ende der Zeitzeugenära ist die Justiz williger als je zuvor, Naziverbrecher ins Gefängnis zu bringen. Das wird nur noch selten möglich sein, gewiss. Hätte man die Täter in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nach heutigen Kriterien verfolgt, es hätte Zehntausende Verfahren gegeben. Die Auschwitz-Prozesse vor 50 Jahren waren immerhin der Beginn des Versuchs einer systematischeren Strafverfolgung als zuvor. Das bleibt ihr Verdienst.

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