Nazi-Verbrecher:Gewöhnliche Männer

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Durchschnittliche Deutsche verübten im Zweiten Weltkrieg in Osteuropa ohne Skrupel Massenmorde. Dann begannen die Nazis mit einem gigantischen Vertuschungsversuch: der "Aktion 1005".

Peter Bierl

Im November 1941 stoppte die Rote Armee die Wehrmacht vor Moskau, im Dezember traten die USA in den Krieg ein. Das Kräfteverhältnis verschob sich zugunsten der Alliierten. In der deutschen Führung löste dies eine "sudden sensitivity about evidence", eine plötzliche Empfindsamkeit gegenüber Beweisen aus, wie der Schriftsteller Saul Bellow bemerkte.

Reinhard Heydrich (li.), Chef der Sicherheitspolizei, im Prager Schloss (Foto: Foto: Deutsches Bundesarchiv)

Im Frühjahr 1942 gaben der Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, und Gestapochef Heinrich Müller dem SS-Standartenführer Paul Blobel den Auftrag, die verscharrten Leichen der Massenmorde von SS, Wehrmacht und Polizei zu beseitigen.

Das ist der Ausgangspunkt der Studie von Jens Hoffmann über die "Aktion 1005", mit der die Nazis versuchten, die Spuren ihrer Verbrechen in Osteuropa zu beseitigen. Der Name war abgeleitet aus einem Brief Müllers, in dem die Ziffer als Geschäftszeichen fungierte.

Der Historiker aus Berlin hat Aussagen der wenigen Überlebenden, Schriftstücke der Täter sowie Protokolle von Vernehmungen recherchiert und ausgewertet und mit seiner dreieinhalbjährigen Arbeit eine wichtige Forschungslücke geschlossen.

Im ersten Kapitel skizziert Hoffmann die Vernichtung der europäischen Juden, angefangen von den Massenexekutionen, die im Juni 1941 mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion begannen. Immer wieder reflektiert er dabei auch die Darstellung des Grauens, deren Grenzen und Angemessenheit.

So entlasteten die Täter, die sich als sadistische Killer betätigten, und auf die sich die Empörung konzentriere, die sogenannten Normalen. Hoffmann verweist auf John Demjanjuk, der seit einigen Tagen in Stadelheim in Untersuchungshaft sitzt.

Wie eine beliebige Konserve

Der Schriftsteller Philip Roth, der den ersten Demjanjuk-Prozess in Jerusalem beobachtet hat, beschrieb aufgrund von Zeugenaussagen 1993 in seinem Roman "Operation Shylock", wie dieser seine Opfer gequält haben soll, wie er noch lebende Juden in die Gaskammer schickte, um die Ermordeten herauszuholen, zehn bis fünfzehnmal am Tag.

Doch 1993 musste Demjanjuk im Berufungsverfahren freigesprochen werden, weil er mit "Iwan dem Schrecklichen", dem Massenmörder von Treblinka, verwechselt worden war. Roth hatte den Tätertyp so charakterisiert: "Lebenskräftiger gesunder Bengel. Guter Arbeiter. Nie krank. Nicht mal Suff machte ihn langsamer. Eher im Gegenteil."

Doch Sadisten allein hätten es nicht geschafft, wendet Hoffmann ein. Man habe es mit Leuten zu tun, die eine Blechdose wie eine beliebige Konserve öffneten und deren Inhalt in ein Loch schütteten und damit Hunderte in kürzester Zeit töteten. Dies taten Polizisten, Techniker, Angestellte und Beamte, "gewöhnliche deutsche Männer, deren hervorstechendste Eigenschaft gerade ihre Leidenschaftslosigkeit war".

Dazu gehörten deutsche Anwohner des Vernichtungslagers Chelmno/Kulmhof, die sich über Orgien des Wachpersonals beschwerten und darüber, dass sie sehen konnten, wie Juden zu Fuß durch die Ortschaften getrieben wurden. Daraufhin transportierten die deutschen Todeskommandos ihre Opfer diskreter mit Lastwagen und Kleinbahn.

Blobel, der Leiter der Aktion 1005, Jahrgang 1894, war gelernter Zimmerer und Maurer, 1914 Kriegsfreiwilliger, später Architekt und Bauführer in Solingen, verheiratet, zwei Kinder. 1931 trat er der NSDAP, 1932 der SS bei. Als Führer des Abschnitts Düsseldorf des Sicherheitsdienstes (SD) der SS organisierte er die Verfolgung politischer Gegner sowie Diskriminierung, Entrechtung, Ausplünderung und Vertreibung jüdischer Bürger im Rheinland.

Kappen mit Teufelshörnern

1941 führte er ein Sonderkommando der Einsatzgruppe C in der Ukraine. Er meldete seinen Vorgesetzten am 25. September 15.000 Opfer, das Kommando war unter anderem an den Massentötungen in Babi Yar beteiligt.

Im Sommer 1942 testete Blobel in Kulmhof Methoden der Leichenbeseitigung: Ein Rost aus Eisenbahnschienen, dann abwechselnd Leichen und Brennholz meterhoch aufgeschichtet und mit einer brennbaren Flüssigkeit wie Benzin getränkt, wären am effektivsten, stellte er fest, dazu eine Kugelmühle, um Knochenreste zu zerkleinern.

Blobel beriet KZ-Kommandanten wie Rudolf Höß aus Auschwitz und leitete vom Frühjahr 1943 bis Ende 1944 die Aktionen in Polen, Weißrussland, Serbien und in der Ukraine. Einige 1005-Kommandos waren im Baltikum aktiv, alle zunehmend bedrängt von der Roten Armee. Einen Scheiterhaufen nahe der estnischen Hauptstadt Reval, heute Tallinn, konnten die Mörder deshalb nicht mehr anzünden.

Der Ablauf war stets ähnlich: Bewacht von SD-Männern und Schutzpolizisten wurden Häftlinge gezwungen, Massengräber zu öffnen, die verwesenden Leichen mit Schürhaken oder bloßen Händen zu bergen und auf Scheiterhaufen zu verbrennen.

Walter Schallock, Kommandant des Lagers Janowska bei Lemberg ließ für Häftlinge, die am Scheiterhaufen arbeiteten, eigens Lederkappen mit Teufelshörnern anfertigen. Zuletzt erschossen die deutschen Wächter die Arbeitssklaven mit Genickschüssen und verbrannten sie. Schließlich sollten keine Zeugen dieser als "Geheime Reichssache" klassifizierten Aktionen übrig bleiben.

Unbehelligt die Karriere fortsetzen

Dennoch überlebten einige Häftlinge. Im November 1943 gelang einer Gruppe der Ausbruch aus Janowska, darunter Leon Welliczker-Wells, später Ingenieur in den USA und Zeuge im Eichmann-Prozess, dessen Aufzeichnungen Hoffmann zitiert.

Dem Buch sind viele Leser zu wünschen. Denn es dokumentiert und beschreibt anschaulich und faktenreich, wie Deutsche versuchten, die Spuren der Shoah zu tilgen. Deutlich wird, warum sich Gleichsetzungen mit anderen Diktaturen verbieten.

Gelegentlich sarkastisch schildert Hoffmann die Entlastungsversuche der Mörder nach 1945. Der Organisator Blobel wurde 1948 in Nürnberg zum Tode verurteilt und gehängt, einige Führer der 1005-Kommandos erhielten Haftstrafen, die meisten anderen blieben unbehelligt und konnten ihre Karriere fortsetzen, viele im Polizeidienst der Bundesrepublik.

JENS HOFFMANN: "Das kann man nicht erzählen". "Aktion 1005" - Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten. Konkret Verlag, Hamburg 2008. 448 Seiten, 29,80 Euro.

© SZ vom 25.05.2009/gal - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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