Türkische Offensive gegen Terroristen:Warum die Nato nicht gegen den IS kämpft

Grafik zur Situation im syrischen Bürgerkrieg

SZ-Grafik: Die geplante Sicherheitszone an der türkisch-syrischen Grenze treibt einen Keil zwischen Gebiete, die von den Kurden kontrolliert werden.

  • Die Nato-Botschafter kommen heute zu einer Sondersitzung zusammen. Die Türkei hatte wegen der Zuspitzung der Situation an der Grenze zu Syrien darum gebeten.
  • Dass es zu mehr als einer Solidaritätsbekundung mit der türkischen Regierung kommt, ist unwahrscheinlich.
  • Keinem der Mitglieder in der Allianz ist an einem gemeinsamen Kampf gegen den IS gelegen.

Von Daniel Brössler

Der Artikel 4 des Nordatlantik-Vertrages ist kurz und praktisch. "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist", heißt es darin.

Wer in der Nato den Ernst einer Lage unterstreichen will, ohne dabei gleich den in Artikel 5 geregelten Bündnisfall an die Wand zu malen, der kann zu Artikel 4 greifen. Man könnte ihn den Ankara-Artikel nennen, denn abgesehen von Polen und Litauen im Ukraine-Konflikt war es bisher stets die türkische Führung, die ihn nutzte, um den Nato-Rat zusammenzutrommeln.

Angesichts der dramatischen Zuspitzung an der Grenze der Türkei zu Syrien und zum Nordirak ist es also keine wirkliche Überraschung, dass Generalsekretär Jens Stoltenberg auf Ersuchen aus Ankara für diesen Dienstag die Botschafter der 28 Nato-Staaten zusammengerufen hat.

Keiner in der Allianz hat Interesse an einem gemeinsamen Kampf gegen IS

Als "sehr richtig und zur rechten Zeit" hat Stoltenberg selbst die Einberufung des Treffens in der BBC bezeichnet. "Die Nato-Verbündeten verfolgen die Entwicklungen sehr genau und stehen solidarisch an der Seite der Türkei", ließ er überdies in einer Pressemitteilung verbreiten. Es ist eine Formulierung, die ziemlich viel Spielraum lässt und eben nicht das bedeutet, was manche bereits befürchten: dass die westliche Allianz sich auf den Weg machen könnte in den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Dagegen jedenfalls sprechen die Interessen praktisch aller in der Allianz.

Das gilt zunächst für die Türkei selbst. Ihre Strategie gegenüber dem IS ist im Bündnis äußerst umstritten. Wenig Verständnis gab es schon in der Vergangenheit für die von vielen so empfundene Nachlässigkeit gegenüber den Islamisten bei gleichzeitig höchstem Misstrauen gegenüber den Kurden.

Auf ausgesprochene Kritik stößt nun der türkische Zweifronten-Kampf gegen IS und Kurden. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu appelliert, "den Friedensprozess mit den Kurden nicht aufzugeben", spricht sie für viele in der Nato. Das gilt auch für die Ermahnung, "das Gebot der Verhältnismäßigkeit" zu beachten. Stoltenberg klingt in einem Interview mit dem norwegischen Rundfunk ganz ähnlich: "Die Türkei hat das Recht, sich gegen Terroranschläge zu verteidigen, aber es ist wichtig, dass die Maßnahmen verhältnismäßig sind und nicht in einer unnötigen Weise zu einer Eskalation des Konflikts beitragen."

Ankara möchte dringend aus der Außenseiterrolle heraus

Die Türkei möchte eigentlich heraus aus der Rolle des Außenseiters in der Allianz und hat nicht zuletzt aus diesem Grund vor Kurzem ein Nato-Außenministertreffen in Antalya ausgerichtet. In der aktuellen Lage ist die Türkei auch durchaus an Solidaritätsadressen aus der Nato interessiert. Als ziemlich ausgeschlossen aber kann gelten, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bereit sein könnte, sich den Ratschlägen seiner Verbündeten zu fügen. Eine ernsthafte Beteiligung der Nato am Kampf gegen den IS ist insofern gar nicht in seinem Interesse, würde sie ihn doch in seiner Handlungsfreiheit beeinträchtigen.

Auch die USA setzen im Kampf gegen den IS nicht auf die Nato, sondern auf die von ihnen angeführte lockere Koalition. Zwar unterstützen praktisch alle Nato-Mitglieder die Koalition auf die eine oder andere Weise, entscheidend für die USA aber ist es, Länder aus der Region einzubinden, vor allem die Golfstaaten. Der Eindruck, es handele sich um einen Feldzug des Westens soll gerade vermieden werden.

Als die Koalition im Dezember 2014 in Brüssel tagte, tat sie es zwar im Nato-Hauptquartier, aber nur aus "logistischen Gründen", wie damals versichert wurde. "Ich will anfangen, indem ich betone, dass dies keine Nato-Veranstaltung ist", hatte US-Außenminister John Kerry damals gleich zu Beginn klargestellt. Tatsächlich war zuvor alles aus dem Sitzungssaal entfernt worden, was an die westliche Allianz erinnern könnte.

Die Nato ist auf eine Bedrohung aus dem Osten ausgerichtet

Derzeit wiederum ist es für die Amerikaner vorrangig, die Türkei bei Laune zu halten. Die unterschiedlichen Strategien im Anti-IS-Kampf hatten zu erheblichen Friktionen geführt. Erst nach dem Selbstmordanschlag von Suruç erlaubte die Türkei den USA die Nutzung des Luftwaffenstützpunkts Incirlik für Einsätze gegen den IS.

Wenn also weder die Türkei noch die USA daran interessiert sind, die Nato mit viel mehr als Worten gegen die islamistischen Terrorkämpfer in Stellung zu bringen, so sind es die anderen Verbündeten erst recht nicht. Die Allianz hat gerade erst den Kampfeinsatz in Afghanistan hinter sich gebracht und ist voll ausgelastet mit dem größten Umbau seit Ende des Kalten Krieges. Beim Gipfeltreffen in Wales im vergangenen Jahr war ein "Aktionsplan" verabschiedet worden, der die Einsatzbereitschaft der Nato erhöhen soll - hauptsächlich als Antwort auf die Annexion der Krim durch Russland und den von Moskau befeuerten Krieg im Osten der Ukraine.

Zwar wird Nato-Generalsekretär Stoltenberg nicht müde zu betonen, es gehe darum, den "Herausforderungen aus dem Osten wie dem Süden" zu begegnen. Praktisch aber richtet die Allianz ihre neue Speerspitze, also die neue superschnelle Eingreiftruppe, hauptsächlich gegen eine mögliche Bedrohung aus Russland. Weit weniger klar ist, was die Nato im Süden tun könnte. In der Türkei wurden zwar Flugabwehrsysteme des Typs Patriot stationiert, doch die dienen nicht dem Kampf gegen den Terror, sondern sollen - eher symbolisch - das syrische Assad-Regime abschrecken.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: