Nationen-Stereotype in Europa:Vorurteile und ihr wahrer Kern

Die Franzosen, heißt es jedenfalls, sind arrogant und ein wenig feige, die Italiener geschwätzige Modeverrückte, die keine Steuern zahlen, und die Deutschen so pedantisch, dass sie auch im Urlaub penibel sämtliche Poolliegen mit ihren Handtüchern eindecken. Stimmt - aber nicht so ganz, sagen internationale Autoren, die entschlüsseln, was hinter den Klischees steckt.

Die Franzosen: Wir sollen arrogant und feige sein?

Nationen-Stereotype in Europa: undefined
(Foto: Karikatur: Paul Bommer, Guardian)

Die Klischees mit dem Bade ausschütten? Das kommt nicht in Frage. Abgesehen davon, dass sie durchaus einen Funken Wahrheit enthalten, tragen die gängigen Vorurteile über die französische Identität dazu bei, die Reihen zu schließen. Wir sollen arrogant und nationalistisch sein und zudem ein wenig feige?

Wie lebendig diese Stereotypen sind, hat sich bei der Finanz- und Euro-Krise offenbart: Frankreich konnte nicht verbergen, dass es Schwierigkeiten hat, seine Rolle (beziehungsweise die Rolle, die es sich selbst zuschreibt) auf der europäischen Bühne zu spielen.

Der deutschen Führung setzen wir dröhnenden Diskurs und Unentschlossenheit entgegen? Dieser Vorwurf kann im Grunde nur die Stimmung unseres Landes heben, das Angst davor hat, in mürrische Bewegungslosigkeit zu verfallen und nichts so sehr schätzt wie die Macht des Wortes.

Der Franzose ist stolz auf seinen geschärften Sinn für Ungerechtigkeiten und daher enttäuscht, dass unter den Klischees die Streikkultur nicht erwähnt ist, die übrigens von den Statistiken widerlegt wird. Die Zahlen nämlich zeugen vielmehr von schwächelnden Gewerkschaften.

Die Reputation als Liebhaber gilt es zu beweisen

Das gilt auch für den Vorwurf, wonach die Franzosen zu viel Getue machten und in Arroganz badeten. Man leiht nur den Reichen, und der aufsässige Gallier wird darin sogar eine Ehre erkennen. Schließlich mangelt es uns auch nicht an touristischer Anziehungskraft, obwohl unsere Gastfreundschaft zu wünschen lässt - so sehr, dass man unlängst mit einer Kampagne die Pariser Geschäftsleute dazu bringen musste, danke zu sagen. Oh, wie verbesserungsfähig.

Hingegen sollte uns der Vorwurf des Getues um Sterneköche durchaus beunruhigen - angesichts der aufstrebenden Mächte der Spitzengastronomie wie Spanien, Japan oder China.

Bleibt unsere Reputation als Liebhaber, die zu beweisen wäre. Die verfügbaren Studien sehen uns, was die Zahl der Partner und die Intensität des Geschlechtsverkehrs betrifft, im europäischen Mittelfeld. Aber würden die europäischen Nachbarn uns das ohne Augenzwinkern abnehmen - nach diesem weltweit bekannten Fortsetzungsroman mit dem Titel Dominique Strauss-Kahn? Zumindest in diesem Punkt sollten wir das Gegenfeuer wieder einstellen.

Jean-Michel Normand (Le Monde)

Die Italiener: Listig, aber ungefährlich

Ihr sagt, wir seien große Schwätzer. Stimmt. Ich würde hinzufügen: sehr schlechte Zuhörer, die nur den Klang der eigenen Stimme interessant finden. Ich erinnere mich, was ein Fernsehmoderator seinen Gästen empfohlen hat: Mehr als zwei sollten nie gleichzeitig reden.

europa-Beilage
(Foto: Karikatur: Forges, El País)

Modeverrückt? Im Verhältnis zum europäischen Durchschnitt fühlen wir uns bestimmt als elegante Leute. Weiße Socken werden bei uns polizeilich verfolgt, besonders wenn sie mit Sandalen getragen werden. Und wenn es ein Wahnsymptom ist, Kleidung für einen Ausdruck der Person zu halten und nicht für einen Wurstbehälter, dann sind wir verrückt. Aber nicht gefährlich.

Was den Latin Lover angeht, schmerzt es mich sagen zu müssen, dass ihr euch mit den Altersklassen täuscht. In Italien wächst der Hang zum Sex mit dem Älterwerden. Solange man jung ist, hat man ihn nur tröpfchenweise, auch deshalb setzen wir wenige Kinder in die Welt. Jenseits der 50 dagegen stürzt sich der italienische Mann endlich ins Jungsein.

Dass keiner Steuern zahlt, stimmt nicht. Die Angestellten und die Rentner zahlen sie bis auf den letzten Cent. Nicht aus Bürgersinn, sondern weil sie keine andere Wahl haben. Wir haben kein Staatsbewusstsein. Es ist der Staat, der sich uns bewusst macht. Wir haben ein Heimatland erst seit eineinhalb Jahrhunderten. 2000 Jahre lang mussten wir uns Invasoren beugen, und haben dabei immer versucht, sie reinzulegen.

Individualisten? Wir können in Notlagen gut zusammenstehen. Oder wir greifen zur Spezialität des Hauses: dem Springerzug. Alle Figuren bewegen sich im europäischen Schachspiel in der Horizontalen und in der Vertikalen. Nur das italienische Pferd schafft es, da aufzutauchen, wo es keiner erwartet.

Massimo Gramellini (La Stampa)

Die Polen: Trunkenbolde und Frömmler?

Nationen-Stereotype in Europa: undefined
(Foto: Karikatur: Oliver Schopf, Süddeutsche Zeitung)

Diese Klischees stimmen - aber nur bedingt. Nichts spricht dafür, dass die Polen beim Trinken stark vom europäischen Durchschnitt abweichen. Woher stammt also das Bild vom "saufenden Polen"? Vielleicht daher, dass nur sieben Prozent der Konsumenten fast die Hälfte der Gesamtmenge an Alkohol trinken.

Vor dem Geschäft in meinem Wohnort bei Warschau treffe ich immer dieselbe kleine Gruppe von Männern, die zu jeder Tages- und Nachtzeit Bier und Wodka trinkt, auch frühmorgens, auch wenn Schnee fällt.

Katholiken sind die Polen tatsächlich, mit der Kirche liegen sie aber häufig über Kreuz. Nach einer Umfrage vom November 2011 bezeichnen sich 95 Prozent meiner Landsleute als Katholiken und 92 Prozent als gläubig. Doch nur noch vier von zehn Polen geben an, dass sie die Sonntagsmesse besuchen.

Etwa die Hälfte der Polen spricht sich einer Umfrage vom Herbst 2011 zufolge - gegen die Kirchenlehre - für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch aus. Ebenso wenig teilt ein Großteil der Polen die Meinung der Kirche zur Verhütung und zur Ehescheidung. Bigotterie, verstanden als eifernde Zurschaustellung der Religiosität, ist weitaus weniger verbreitet, als es die Statistik vermuten ließe.

Offen bleiben muss auch die Frage, was die Menschen eigentlich von ihrer Religion wissen. Nach einer Umfrage von 2009 glaubt ein Drittel an die Seelenwanderung, 42 Prozent, dass Tiere eine Seele haben, und nur 59 Prozent an die Hölle. In Polen kann man also als ein ungläubiger Katholik, der die Seelenwanderung propagiert, kirchlich heiraten. Und offenbar ist dies gar nicht so selten.

Antisemitismus existiert, aber eher in Klischees, die ihren Weg ins Unbewusste gefunden haben, als in der realen Politik. Kürzlich hörte ich, wie ein Zehnjähriger zu seinem Freund, der ihm sein Spielzeug nicht geben wollte, "Du Jude!" sagte. Keiner von beiden konnte sagen, was ein Jude ist. Beide waren überrascht, als ich sie danach fragte.

Adam Leszczynski (Gazeta Wyborcza)

Die Briten: Komasäufer und Gentlemen

Nationen-Stereotype in Europa: undefined
(Foto: Karikatur: Aurel, Le Monde)

Stereotypen sind selbst Stereotypen. Das Bild, das die Europäer von den Briten haben - entweder vollgekotzter, besoffener Fußballfan oder schnodderig-eleganter Finanzhai, die beide von vergangener Glorie zehren und bereuen, dass sie nur in Europa leben, statt über die Welt zu herrschen -, dieses Bild ist ja auch schon ein Klischee.

So wie wir Briten wissen, dass Franzosen ein gestreiftes Hemd und eine Baskenmütze tragen und die rotgesichtigen Deutschen sich nur von Bier und Wurst ernähren, so genau wissen wir auch, was all die Europäer über uns denken. Saufen, Klassendünkel und die Obsession mit dem Zweiten Weltkrieg, all das taucht regelmäßig auf, wenn unsere Kollegen jenseits des Kanals mal eben den Briten als solchen beschreiben.

Schön wäre es, sagen zu können, dass sie damit völlig danebenliegen. Aber leider werden Klischees erst Klischees, wenn sie im Wesentlichen der Wahrheit entsprechen.

Die Sauferei zum Beispiel. Sicher, wir könnten jetzt mit der Statistik kommen, die bestätigt, dass wir längst nicht die schwersten Trinker in Europa sind. Tatsächlich liegen wir im jüngsten OECD-Bericht auf Platz elf beim Alkoholkonsum, weit hinter den erstplatzierten Franzosen, denen Portugiesen und Österreicher folgen.

"Das Problem besteht darin, wie wir trinken"

Aber während Franzosen, Deutsche, Spanier und Italiener ihren Konsum seit den achtziger Jahren stark gesenkt haben, trinken die Briten jetzt neun Prozent mehr. Am Ende ist es jedoch nicht die schiere Zahl der geschluckten Pints - oder Liter -, die uns diesen versoffenen Ruf beschert hat. Das Problem besteht in der Art und Weise, wie wir trinken. Der französische Konsum mag hoch sein, aber er ist es, weil viele Leute eher wenig trinken: das Glas Rotwein zum Essen.

Die britische Krankheit hat es sogar in die französische Sprache geschafft: Le binge drinking, das Komasaufen, nennt man dort jene Veranstaltung, bei der es alleine darum geht, sich möglichst schnell die Birne abzuschießen. Laut einer Studie geben 54 Prozent der 15- und 16-jährigen Briten zu, schon mal beim Komasaufen mitgemacht zu haben; der EU-Durchschnitt liegt bei 43 Prozent. Es ist also schon was dran an diesem Image.

Und das angeblich so schreckliche Klassenbewusstsein? Wenn wir nur sagen könnten, das sei überholt und die meisten Briten seien längst Teil einer riesigen Mittelklasse. Die Zahlen sind weniger tröstlich. Was die soziale Durchlässigkeit betrifft, liegen die Briten laut OECD am Ende der Skala; Kinder aus armen Familien haben geringere Aussichten, nach oben zu kommen, als in Italien, Frankreich, Spanien oder Deutschland. Und leider ist es mehr als ein Klischee, dass hierzulande noch immer zählt, welche Aussprache man hat und auf welcher Schule man war.

Der Schöpfungsmythos der Briten

Auch die Kriegsbesessenheit lässt sich nicht so leicht verleugnen. Wir haben die Jahre von 1939 bis 1945, aus zum Teil ehrenwerten Gründen, zu einer Art Schöpfungsmythos gemacht, zur Geburtsgeschichte des modernen Großbritannien. Wir haben Churchill zum größten Briten gewählt, wir verehren die Queen auch deshalb, weil sie einen direkten Bezug zu einer Zeit darstellt, als wir unstreitig auf der Seite des Guten standen.

Und doch: Als Brite muss man der Karikatur von uns auch widersprechen. Zum einen ist sie widersprüchlich. Wie kann man gleichzeitig total kontrolliert und willens sein, sich betrunken die Kleider vom Leib zu reißen? Und sie ist unvollständig. Vor allem in den großen Städten ist unsere Gesellschaft weit vielfältiger, als das Hooligan/Gentleman-Image suggeriert.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist Großbritannien insgesamt wohl auch toleranter. Einige öffentliche Dienstleister - der National Health Service, die BBC - werden immer noch bewundert. Das Land ist, trotz allem, nicht pleite. Und wer das nicht akzeptieren mag, sollte hören, was wir über ihn sagen.

Jonathan Freedland (Guardian)

Die Deutschen: Reine Liege machen

Nationen-Stereotype in Europa: undefined
(Foto: Karikatur: Gianni Chiostri, La Stampa)

Ja, sie stimmen alle. Alle Klischees sind richtig. Sogar das mit den Handtüchern, mit denen die Deutschen frühmorgens die Liegen am Pool besetzen. Zumindest hat mir das ein weitgereister Freund bestätigt, und er bestätigte auch, dass es ausschließlich die Deutschen seien, die es machen. Allerdings widerlegte er das Klischee teilweise gleich wieder. Nicht nur, weil er selbst als Deutscher, wie er versicherte, das nie tun würde. Sondern weil er mit zwei Engländerinnen, die er am Abend vorher beim Trinken in der Hotelbar - so viel zu weiteren Klischees - kennengelernt hatte, am nächsten Morgen am menschenleeren Hotelpool eigenhändig alle Handtücher von den Liegen warf.

Allerdings nährt er mit dieser Aktion gleich das nächste Klischee: Fleiß, Effizienz und Disziplin. Die meisten Urlauber aus anderen Ländern beklagen sich über den Missstand, er schritt zur Tat und machte mit wenigen Handgriffen reine Liege. Womit klar wäre, dass er nicht aus Berlin kommt. Nicht weil er handgreiflich wurde, das gibt es in Berlin durchaus. Sondern wegen Fleiß, Effizienz und Disziplin.

Vielleicht sind das wirklich typisch deutsche Eigenschaften, nur dass sie typisch für die Hauptstadt wären, habe ich noch nirgendwo gehört. Höchstens in Berlin. Ansonsten hält man in den anderen Teilen der Republik Berlin eher für das Südamerika des Landes. Nicht wegen des Wetters, sondern wegen des entspannten Verhältnisses zu Terminen und Fertigstellungen. Obwohl es nicht wirklich entspannt ist, sondern alle sich darüber aufregen - das ist schon wieder eher typisch für Berlin -, aber effizient ist nicht das richtige Wort für Berlin. Siehe die Berliner Baustellen. So sind für gut zwei Kilometer neue Straßenbahngleise - um den Hauptbahnhof Jahre nach seiner Fertigstellung anzubinden - drei Jahre Bauzeit veranschlagt. Verzögerungen nicht eingerechnet.

"Vielleicht sind die Chinesen die Deutschen des 21. Jahrhunderts"

In der Zeit werden in China komplette Städte oder Hochgeschwindigkeitstrassen gebaut. Vielleicht sind die Chinesen die Deutschen des 21. Jahrhunderts. Oder die Berliner keine typischen Deutschen. Was es über ein Land aussagt, wenn die Hauptstadt untypisch ist, bliebe zu ergründen.

Beim dritten Klischee wird es schwierig: Die Deutschen seien steif und humorlos. Sicherlich ist Frau Merkel steifer als Herr Berlusconi, bei Herrn Monti könnte es umgekehrt sein. Und dass Herr Wulff steifer ist als die Queen werden die wenigsten behaupten. Was vielleicht ein Problem darstellt, weil Herr Wulff etlichen hierzulande zu wenig steif war im Umgang mit Freunden und deren Wohltaten. Und zu steif, was Offenheit angeht. Obwohl steife Lippen, zumindest Oberlippen, ja sonst den Engländern nachgesagt werden.

Hier kommt womöglich die Humorlosigkeit der Deutschen zu tragen: Anscheinend versteht man keinen Spaß, wenn es um Politiker geht. Zumindest außerhalb von Satiresendungen und Karnevalssitzungen - vielleicht haben die Deutschen doch Humor, er muss nur im Terminkalender eingetragen sein. Über das, was Herrn Wulff vorgeworfen wird, würde man in anderen Ländern wohl lauthals lachen. Da fällt einem wieder Herr Berlusconi ein. Das darf man hier schreiben, schließlich geht es um Klischees. Und die, die man den Deutschen nachsagt, stimmen eben alle. Auf jeden Fall ist man bei ihrer Einhaltung diszipliniert, fleißig und effizient.

Rainer Erlinger (Süddeutsche Zeitung)

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: