KZ-Morde vor Kriegsende:Genickschuss und Giftspritze

Selektion an der Rampe des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau

Mitglieder der SS-Totenkopfverbände nehmen im KZ Auschwitz-Birkenau die sogenannte Selektion der angekommenen Häftlinge vor.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Wie wirkte sich der Untergang des Nazi-Reiches in den Konzentrationslagern aus? Stefan Hördler liefert neue Erkenntnisse über das Vernichtungssystem der SS in den Monaten vor Ende des Zweiten Weltkrieges.

Von Michael Mayer

Der SS-Unterführer trug einen weißen Arztkittel. Der sowjetische Kriegsgefangene, der sich im Konzentrationslager scheinbar einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen hatte, betrat nichts ahnend das Behandlungszimmer. Wie auch sollte er wissen, dass sich hier, umgeben von medizinischen Utensilien, eine getarnte Genickschussanlage befand.

Der SS-Unterführer trat auf ihn zu und bat ihn, sich vor eine Messlatte zur Bestimmung der Körpergröße zu stellen. Diese Messlatte, die nun passgenau eingestellt wurde, besaß einen Schlitz in Höhe seines Genicks. Auf ein Zeichen des "Arztes" hin wurde der Gefangene aus einem Nebenraum heraus exekutiert. Stolz vermerkte man im KZ Buchenwald dazu: "Jede Minute eine Leiche."

Derartige Vorkommnisse beschreibt Stefan Hördler in seinem aktuellen Buch, das sich auf das System der Konzentrationslager im letzten Kriegsjahr konzentriert.

Damals kam es zu umfangreichen Veränderungen im SS-Lagersystem, was von der Wissenschaft als eine "Ökonomisierung" des KZ-Kosmos in den letzten Kriegsmonaten interpretiert wurde: Die Verschlechterung der Kriegslage habe dazu geführt, dass die Belange der Rüstungswirtschaft nunmehr in den Mittelpunkt gerückt seien. Man habe deshalb KZ-Häftlinge massiv für die Waffenproduktion eingesetzt.

Dem widerspricht Hördler mit dem Befund, dass die Massentötung von Häftlingen trotz eines umfangreichen Mangels an Arbeitskräften gerade seit Herbst 1944 deutlich zugenommen habe.

Genickschussanlagen und Giftspritzen

Ebenso kritisiert Hördler die "Räumungsthese", wonach sich die SS-Kommandanten seit Anfang 1945 auf die absehbare Auflösung ihrer Lager dahingehend vorbereitet hätten, dass alle nicht marschfähigen Häftlinge gleichsam präventiv ermordet wurden.

Auf diese Weise sei eine permanente Marschbereitschaft der Lagerinsassen gegeben gewesen. Hördler hingegen weist nach, dass die Massentötungen bereits Ende 1944 begannen, während die eigentlichen "Todesmärsche" 1945 überhastet und unvorbereitet in Gang gesetzt worden seien.

Wie aber veränderte sich in den letzten Kriegsmonaten das KZ-System?

Der Vormarsch der Alliierten seit Sommer 1944 erforderte eine Umstrukturierung der Lager. So wurden die Häftlinge von aufgelösten KZs in andere Konzentrationslager verbracht. Die dortigen SS-Kommandanten mussten nun mit der Überfüllung ihrer Lager umgehen. Anfangs wurden arbeitsunfähige und kranke Insassen nach Auschwitz-Birkenau deportiert und sogleich ermordet.

Als jedoch im November 1944 die Massentötungen dort beendet wurden, konnten die lokalen Kommandeure die Anzahl ihrer Häftlinge nicht mehr durch Abschiebungen nach Auschwitz kontrollierbar halten. Damit begann eine Phase der Neuformierung des KZ-Systems.

Vor allem die Hauptlager wie Stutthof oder Ravensbrück wurden nun zu Kranken- und Sterbelagern, in denen die Insassen gezielt unterversorgt wurden. Krankheiten und Seuchen breiteten sich aus und töteten innerhalb kürzester Zeit Tausende Häftlinge. Zugleich intensivierte man die Massenmorde - etwa mit Genickschussanlagen oder Giftspritzen.

Im Inferno waren Arbeitskräfte rar geworden

Zudem kam es zu einer Funktionsanpassung der Lager. Den Forderungen der Rüstungswirtschaft nach Arbeitskräften kam die SS nach, indem eine große Anzahl an Außenlagern in direkter Nachbarschaft zu Rüstungsbetrieben gegründet wurde.

Dabei zeigte sich, dass die Auswahl der Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie nicht nach rassischen oder anderen Kriterien vorgenommen wurde, wie dies noch kurz zuvor der Fall gewesen war. Vielmehr wurden arbeitsfähige jüdische wie nichtjüdische Häftlinge in die Außenlager verlegt (wo sie zumeist rasch aufgrund der Arbeitsbedingungen den Tod fanden), während kranke Häftlinge in den Sterbelagern verblieben.

Der SS ging es dabei allein um eine Stabilisierung des Lagersystems und damit ihrer Machtposition durch die brutale Ermordung scheinbar überflüssiger Häftlinge und die ökonomische Ausbeutung der Arbeitsfähigen.

Damit zeigt sich ein Interaktionszusammenhang zwischen der Reorganisation der überfüllten Lager einerseits sowie Zwangsarbeit und Massenmord andererseits, was Hördler mit dem Begriff "Rationalisierung" beschreibt.

Hördler ist es mit seiner quellengesättigten, sehr dichten Darstellung gelungen, das System der Konzentrationslager im letzten Kriegsjahr minutiös zu beschreiben und eine überzeugende Interpretation des KZ-Kosmos vorzulegen. Eine zugleich vorgenommene, sorgfältige Netzwerkanalyse des SS-Lagerpersonals führt jedoch leider zu wenig überraschenden Ergebnissen.

Bestätigt wird damit die bereits bekannte Kontinuität der Vernichtungsspezialisten, die auf ein ausgedehntes Patronagesystem aufbauen konnten. Zugleich aber erweitert Hördler den bisherigen Forschungsstand: der Ursprung dieser SS-Netzwerke lag nicht allein in Dachau ("Dachauer Schule"), sondern auch in anderen frühen KZs.

Der Begriff Holocaust wird erweitert

Hördlers Studie lässt sich in jüngste Entwicklungen der Holocaust-Forschung einordnen, die durch eine "Rückkehr der Lager" gekennzeichnet ist. Nachdem Auschwitz bis Ende der 1980er-Jahre beinahe allein als Chiffre für die Judenvernichtung diente, änderte sich dies nach Öffnung der osteuropäischen Archive.

Nun wurde deutlich, dass die Mehrzahl der Opfer der deutschen Vernichtungspolitik im Osten bereits vor Ort ermordet wurde und nie ein Lager erreichte. Hördler macht mit seiner Studie aber deutlich, dass das KZ-System auch weiterhin beachtet werden sollte.

KZ-Morde vor Kriegsende: Stefan Hördler, Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Wallstein-Verlag 2015, 531 Seiten, 46 Euro. Als E-Book: 36,99 Euro.

Stefan Hördler, Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Wallstein-Verlag 2015, 531 Seiten, 46 Euro. Als E-Book: 36,99 Euro.

(Foto: Verlag)

Zudem steht seine Studie in einem zweiten Trend der Holocaust-Forschung. Nachdem die jüdischen NS-Opfer jahrzehntelang kaum beachtet wurden, rückten diese berechtigterweise seit den 1980er-Jahren in den Mittelpunkt der Forschung.

Seit etwa zehn Jahren zeigt sich aber, dass der Holocaust-Begriff wieder erweitert wird und nichtjüdische Opfergruppen, etwa sowjetische Kriegsgefangene, Sinti und Roma oder Zwangsarbeiter, stärkere Beachtung neben der auch weiterhin wichtigsten Gruppe, den Juden, finden.

Hördler leistet damit einen wichtigen Beitrag, eine Opferkonkurrenz zu vermeiden und das Leiden der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, ohne damit apologetischen Tendenzen Vorschub zu leisten.

Michael Mayer leitet den Arbeitsbereich Zeitgeschichte an der Politischen Akademie Tutzing. In seinem Buch "Staaten als Täter" (München: Oldenbourg 2012) verglich er die "Judenpolitik" in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich.

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