Nationalklischees:So sehen die Briten die neuen Deutschen

"Krauts" waren gestern. Heute differenzieren Briten, wenn sie sich die Deutschen anschauen: Da gibt es Wutbürger, Bio-Kapitalisten und Power-Ossis. Die Londoner Zeitung "The Guardian" stellt die neuen Stereotype in ihrer Deutschland-Serie "The Accidental Empire" vor. Fühlen Sie sich ertappt?

Philip Oltermann, London

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Der Wutbürger

"Krauts" waren gestern. Heute differenzieren Briten, wenn sie sich die Deutschen anschauen: Da gibt es Wutbürger, Bio-Kapitalisten und Power-Ossis. In der Reihe "The Accidental Empire" setzt sich der britische Guardian mit der wachsenden Macht Deutschlands und seinem Verhältnis zu Europa auseinander. In einem Beitrag der Reihe beschreibt der deutsche Guardian-Mitarbeiter Philip Oltermann neue Stereotype, die Briten heute in der deutschen Gesellschaft erkennen. Der "Wutbürger" trat Ende 2009 ins Rampenlicht: Nachdem der Stuttgarter Stadtrat die Fortführung des umstrittenen städtischen Entwicklungsprojekts Stuttgart 21 erlaubt hatte, zog eine Gruppe verärgerter Einheimischer auf die Straße, um ihr Anliegen öffentlich zu machen. In den folgenden Monaten wuchsen die Proteste von erst Hunderten auf Tausende Beteiligte; im September 2010 führten Zusammenstöße mit der Polizei dazu, dass zahlreiche Menschen verhaftet oder ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Ein älterer Mann erblindete fast völlig durch eine von einem Wasserwerfer verursachte Augenverletzung. In Deutschland sind öffentliche Proteste keine Seltenheit, doch diese Demonstranten waren anders. Nur wenige von Ihnen waren junge Idealisten mit Dreadlocks oder rasierten Köpfen. Einige waren Umweltschützer, die ihre Lust an Demonstrationen 1968 entwickelt hatten, andere Konservative, die sich besorgt zeigten über die Zerstörung des architektonischen Erbes ihrer Stadt. Viele waren Rentner. Spiegel-Journalist Dirk Kurbjuweit, der den Begriff Wutbürger prägte, beschrieb ihn als "konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker". Wutbürger sind nicht nur ungehalten über Lokalpolitik, sie beschweren sich auch lautstark über faule Griechen, korrupte Bürokraten oder Immigranten, die ihren Kindern kein Deutsch beibringen. Viele sehen in ihnen das Zeichen einer größeren demografischen Verschiebung: Es entsteht eine neue politische Mitte, die sich aus der wachsenden Armee von Rentnern des Landes rekrutiert, die immer mehr an den Vorteilen der Globalisierung zweifelt, sich über moderne Politiker ärgert und nervös darüber wacht, wie sich die Inflation auf ihre Ersparnisse auswirkt. (Übersetzung: Barbara Galaktionow)

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Der Bio-Bourgeois

In den 1980er Jahren entstand der sogenannte Öko, der Norwegerpullover tragende Biokrieger, der sein eigenes Müsli herstellte, gegen Atomkraft protestierte und sein Dinkelbrot im Bioladen kaufte. Heute sind grüne Ideen Mainstream, und der Öko wurde ersetzt durch ein neues soziales Stereotyp, oft als "Bionade-Biedermeier" bezeichnet -nach der Bio-Limonade einerseits und der zwischen 1815 bis 1827 angesiedelten Epoche des Biedermeier andererseits, in der die zentraleuropäische Bourgeoisie entstand. Die Bio-Bourgeoisie ist vor allem im Hamburger Schanzenviertel, dem Berliner Prenzlauer Berg oder dem Kölner Agnesviertel anzutreffen. Sie definiert sich weniger über ihre Büßerhemd-Askese oder politischen Aktivismus als über einen grünen Lebensstil. Auch die Bio-Bourgeois recyclen ihren Müll, geben jedoch nur halb so viel Spenden für Wohlfahrtsverbände aus wie ihre britischen Pendants. Der Bio-Bourgeois sucht sich einen Ökostromanbieter, trägt eine handgemachte Leinentasche oder trinkt eine Bio-Marken-Limonade, aber mehr auch nicht.

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Der Piraten-Wähler

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(Foto: Ulli Lust ©Guardian News&Media)

Der Aufstieg der Piratenpartei ist ein europaweites Phänomen, doch nur in Deutschland dringen die Piraten ernsthaft in die Parlamente vor. Im Mai standen sie Umfragen zufolge auf Bundesebene bei elf Prozent der Wählerstimmen. Das Äußere ihrer Kandidaten ist wohldokumentiert: Pferdeschwanz, Gesichtsbehaarung, Socken in Sandalen und T-Shirts mit Insiderwitzen über Linux. Wer sie wählt? Den Statistiken zufolge ist der typische Piraten-Wähler männlich, zwischen 18 und 29 Jahren alt und gut ausgebildet. Er lebt in Berlins Boheme-Viertel Kreuzberg und ist freiberuflicher Grafik-Designer, der meist mit iMac im Café arbeitet. Er hat einen Universitätsabschluss, aber kein reguläres Einkommen, weshalb seine Eltern ihm immer noch bei der Miete finanziell unter die Arme greifen. Potentielle Piraten-Wähler werden - je nach Motivation - im Allgemeinen als passive Sozialromantiker angesehen oder als aktive Leistungsverweigerer, die ihre Work-Life-Balance für wichtiger halten als eine lukrative Karriere. Einer aktuellen Studie zufolge sagen 59 Prozent der deutschen Spitzenverdiener, dass ihr Wunsch nach beruflichem Fortkommen in den vergangenen 50 Wochen abgenommen hat. Einer der wenigen konkreten Vorschläge im Programm der Piratenpartei ist die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle.

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Der Medien-Aristokrat

Im Nachkriegs-Deutschland waren Adelige nicht gerade willkommen - zu anhaltend war der Schaden, den zwei Weltkriege angerichtet hatten. Doch auch wenn Blaublütige weniger einflussreich sind als in Großbritannien, so hat das republikanische Deutschland gleichwohl immer noch Appetit auf Klatsch und Tratsch aus der Oberschicht, der von High-Society-Soaps wie Verbotene Liebe oder Magazinen wie Gala gestillt wird. Inzwischen gibt es eine neue Form von Adeligen, die das Scheinwerferlicht der Medien weniger meiden als sich vielmehr darin zu suhlen. Die modernen Medien-Aristokraten schließen Prinz Ernst August von Hannover mit ein, der dabei ertappt wurde, als er bei der Expo 2000 hinter den türkischen Pavillon urinierte; Ferfried von Hohenzollern, dessen Hochzeit mit einem Nackt-Model in einer Doku-Soap festgehalten wurde; oder "Proll-Prinz" Marcus von Anhalt, der eine Bordellkette besitzt. Während die Oberschicht früher gerade in kulturellen Belangen eine gewisse Kultiviertheit pflegte, sind die Geschmäcker der Medien-Aristokraten eher nach unten hin orientiert. Sie sind weit weniger wahrscheinlich in entlegenen Landstrichen anzutreffen als in den Whirlpools der Schickeria (das Wort stammt übrigens vom italienischen sciccheria = Eleganz, Schick), im P1 in München oder im Pony Club auf Sylt, wo sie Schulter an Schulter mit Promi-Friseuren, ehemaligen Sportgrößen und Reality-TV-Stars sitzen. Eine Zeit lang sah es so aus, als könnte die Medien-Aristokratie ihr kulturelles Kapital in wirkliche politische Macht ummünzen. Bis der Plagiatsskandal ihn 2011 zwang, von seinem Amt als Verteidigungsminister zurückzutreten, hatte Karl-Theodor zu Guttenberg alle Aufmerksamkeit der neuen Medienelite. Bei seiner Abschiedszeremonie spielte die Kapelle der Bundeswehr Smoke on the Water von Deep Purple.

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Der Bindestrich-Deutsche

2010 wurde Kanzlerin Angela Merkel weithin zitiert mit ihrem Satz, Multikulti sei "absolut gescheitert". Zwei Jahre zuvor hatte die in Istanbul geborene deutsche Juristin Seyran Ates ein Buch mit dem Titel "Der Multikulti-Irrtum" veröffentlicht. Trotzdem ist nicht zu leugnen, dass Multikulturalismus - wie auch immer man ihn definiert - im heutigen Deutschland Realität ist. Jeder fünfte Deutsche hat einen Migrationshintergrund, bei Kindern unter sechs Jahren ist es sogar jeder dritte. Bemerkenswert ist, dass dieser große Teil der Bevölkerung im Allgemeinen als homogene Gruppe betrachtet wird: Der übliche deutsche Ausdruck ist "Bürger mit Migrationshintergrund". Eine Studie des Heidelberger Sinus-Instituts machte 2008 den Versuch, das zu ändern, indem es die Deutschen mit Migrationshintergrund in unterschiedliche Typen aufteilte. Es stellte dabei eine junge und wachsende Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund heraus, die in zweiter oder dritter Generation in Deutschland leben und sich ebenso stark mit westlichen Lebensstilen und angenommenen speziell deutschen Qualitäten identifizierten wie mit dem ethnischen Hintergrund ihrer Eltern oder Großeltern. Viele von ihnen sind Deutsch-Türken, wie der Real-Madrid-Spielmacher Mesut Özil - in ihm sehen einer Spiegel-Umfrage von 2010 zufolge mehr als die Hälfte der Deutschen ihre Werte repräsentiert. Diese Menschen sprechen Türkisch mit einem deutschen Akzent und neigen dazu, teure deutsche Autos zu mieten, wenn sie ihre Verwandten im Ausland besuchen. Der Sinus-Studie zufolge haben sie zudem eine bessere Arbeitsmoral als Deutsche ohne Migrationshintergrund: 69 Prozent von ihnen glauben, dass harte Arbeit zu einer erfolgreichen Karriere führen wird, im Vergleich zu 57 Prozent beim Rest der Bevölkerung.

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Der Power-Ossi

Im gerade wiedervereinigten Deutschland war es eine verbreitete Annahme, dass Menschen, die in der ehemaligen DDR geboren waren, sich nicht für Machtpositionen eigneten. Fußball-Ikone Günter Netzer äußerte 2003 ein gängiges Vorurteil, als er zu dem Schluss kam, dass der in Görlitz geborene Mittelfeldspieler Michael Ballack niemals ein "Führungsspieler"  im Nationalteam sein könne, da er in einer Gesellschaft aufgewachsen sei, in der vor allem das Kollektiv zählte. Auf der einen Seite gab es den souveränen, gönnerhaften "Besser-Wessi", auf der anderen den unterdrückten, passiven "Jammer-Ossi". 2012 klingen diese Vorurteile zunehmend hohl: Mit Kanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck nehmen zwei in der DDR aufgewachsene Politiker die wichtigsten Positionen des Staates ein, nicht einmal 23 Jahre nach Wende und Wiedervereinigung. Zum Vergleich: In Großbritannien dauerte es immerhin 55 Jahre bis zum ersten schottischen Premierminister - 1762. Merkel mag in ihrem eigenen Kabinett die einzige Ostdeutsche sein und die Arbeitslosigkeit mag in Ostdeutschland immer noch zweimal so hoch sein wie im Westen, aber der Wechsel ist im Gange, vor allem bei den Frauen. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ergab, dass in den vergangenen zehn Jahren deutlich mehr ostdeutsche Frauen in Führungspositionen in Wirtschaft und Politik vordrangen als westdeutsche. Im Öffentlichen Dienst werden fast 45 Prozent der leitenden Positionen von Frauen eingenommen, die in Ostdeutschland geboren wurden. Ein Grund, warum Ostdeutsche Führungspositionen so gut ausfüllen, mag darin liegen, dass sie traditionelle politische Kategorien überwinden. Die pragmatische Merkel findet ihr Gegenstück auf der Linken im aufgehenden Stern der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, die in ihrem Buch "Freiheit statt Kapitalismus" für einen "kreativen Sozialismus" entlang liberaler Leitlinien plädiert und unerwartetes Lob von Hedgefonds-Managern und konservativen Granden erhalten hat.

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