Nahostkonflikt:Blutgetränkte Arena

A Palestinian woman wearing clothes stained with the blood of other relatives, who medics said were wounded in Israeli shelling, cries at a hospital in Gaza City

Unendliches Leid: Seit Beginn der israelischen Offensive im Gazastreifen sollen palästinensischen Angaben zufolge Hunderte Menschen getötet und Tausende verletzt worden sein. (Im Bild: Weinende Frau in einem Krankenhaus in Gaza-Stadt)

(Foto: REUTERS)

Israel will nicht mehr als kraftstrotzender Aggressor gelten. Die politische Führung stellt die Offensive im Gazastreifen als Aktion gegen die "Terror-Tunnel" der Palästinenser dar. Premier Netanjahu galt bislang als besonnen - deshalb kann er nun ungehindert angreifen.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Es ist spät am Abend, exakt 22.38 Uhr, als die Panzer den Boden zum Beben bringen. Israels Führung hat den Befehl erteilt zum Einmarsch in den Gazastreifen, und gleich von mehreren Seiten aus ziehen die Truppen in den Kampf. Geschossen wird aus allen Rohren, am Boden, aus der Luft, vom Meer her. Die "Operation Schutzlinie", die zehn Tage zuvor mit heftigen Luftangriffen begonnen hatte, hat eine bislang noch schützende Linie überschritten. Nun wird Mann gegen Mann gekämpft in einer Arena, deren Boden ohnehin schon blutgetränkt ist.

Sind nun "die Tore der Hölle geöffnet", wie es die Hamas-Propagandisten in solchen Fällen stets gleichlautend in die Welt hinausposaunen? Werden die Islamisten Gaza "zum Friedhof für israelische Soldaten machen", wie es ihr Sprecher ankündigte? Oder wird Israels Armee am Boden nur möglichst schnell einen Einsatz zu Ende bringen, der allein von der Luft aus nicht zu schaffen ist - und dann das Feld räumen? Das sind die Fragen, die die Menschen in Tel Aviv und Jerusalem nun genauso umtreiben wie in Ramallah und Gaza-Stadt.

An Israeli rocket is fired into the northern Gaza Strip

Facetten des Nahost-Konflikts: Israelische Raketen schlagen im Gazastreifen ein.

(Foto: Amir Cohen/Reuters)

Angst und Unsicherheit sind mit Beginn des Bodenkriegs auf beiden Seiten enorm gewachsen. Denn jeder kann sehen, wie es begonnen hat, jeder kann verfolgen, wie es Stufe um Stufe schlimmer wird. Aber keiner kann sagen, wie es enden wird.

Bemühung um Beruhigung

Natürlich würde das kein Politiker und kein Offizier je zugeben, doch bislang hat es auch im Heiligen Land keiner von ihnen in den Rang eines Propheten geschafft. Immerhin: Kaum haben sie das große Getöse in Gang gesetzt, da bemühen sie sich um Beruhigung. Ziel der Militäraktion, sagt Premier Benjamin Netanjahu, sei die Zerstörung der "Terror-Tunnel" der Hamas. Ein großer Krieg, so lautet die Botschaft, ist nicht geplant. Auch ein Militärsprecher erläutert in einem mitternächtlichen Telefonat, dass dies "eine begrenzte, punktuelle Aktion" sei. "Es ist nicht so, dass die gesamte Armee da einmarschiert", sagt Major Arye Shalikar.

Zahlen jedoch will er nicht nennen. Bekannt ist allerdings, dass in den vergangenen Tagen fast 50 000 Soldaten zusammengezogen worden waren, was eine beträchtliche Streitkraft ist. Als Einsatzgebiet nennt der Sprecher "Orte, von denen aus viele Terroraktionen ausgeführt wurden im Norden, Osten und Süden des Gazastreifens". Bedenkt man, dass im Westen nur Wasser ist, weil dort das Meer liegt, klingt auch das ziemlich weitgefasst.

Selten ist eine Offensive so defensiv angekündigt worden. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Israel will nicht wieder als kraftstrotzender Aggressor dastehen in dieser Auseinandersetzung, die ohnehin sehr schnell als unfairer Kampf zwischen David und Goliath erscheint - wobei die Nachkommen Davids nun eben als Riese dastehen und die Palästinenser als Zwerg.

Palestinians travel in a motorbike rickshaw as they flee their houses following an Israeli ground offensive in Rafah

Viele Palästinenser ergreifen vor den zunehmenden Kämpfen die Flucht.

(Foto: Ibraheem Abu Mustafa/Reuters)

Obama und Merkel halten die Füße still

Bei den beiden vorangegangenen Kriegen um Gaza hatte sich die Regierung in Jerusalem noch aufreizend wenig um die Weltmeinung geschert - und dafür so viel Kritik geerntet, dass selbst der Rückhalt der engsten Verbündeten in Frage stand. Nun aber hat Netanjahu zumindest nach außen stets zur Ruhe aufgerufen und Waffenstillstände angeboten, während die Hamas darauf mit Raketen geantwortet hat. Deshalb kann er jetzt in den Gazastreifen einmarschieren, und US-Präsident Barack Obama und Kanzlerin Angela Merkel betonen unisono "Israels Recht auf Selbstverteidigung". Das ist schon einmal ein erster Sieg an der politischen Front.

Die stets versprochene Zurückhaltung allerdings wird konterkariert durch ein paar Zahlen und blutige Bilder: Schon bei den Luftschlägen sind 240 Tote und mehr als 1500 Verletzte auf palästinensischer Seite zu beklagen gewesen. Unterschiedlichen Angaben zufolge sind 50 bis 70 Prozent der Opfer Zivilisten - Alte, Frauen und mehr als 50 Kinder. Die Aufnahmen der vier Jungen, die am Strand von Gaza spielten und dafür mit dem Leben zahlen mussten, sind um die Welt gegangen und haben für Empörung gesorgt. Doch schon am nächsten Tag starben wieder vier Kinder in Gaza, drei davon aus einer Familie.

Mythen um die Tunnel von Gaza

Kein Krieg lässt sich eingrenzen, und auch nun ist der Einmarsch der Bodentruppen wieder begleitet von Blutvergießen. Heftige Schießereien werden aus verschiedenen Teilen des Gazastreifens gemeldet. Allein in der ersten Nacht sollen mehr als 20 Palästinenser getötet worden sein, und wieder sind Kinder unter ihnen. Doch auch ein erster israelischer Soldat ist gefallen, vermutlich durch "friendly fire", durch versehentlichen Beschuss aus den eigenen Reihen. Es ist ein junger Soldat, gerade einmal 20 Jahre alt, Eitan Barak ist sein Name.

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Bei den Palästinensern werden die Opfer zu Märtyrern stilisiert, bei den Israelis werden sie posthum in einen höheren Rang befördert. Die Armee verbreitet auch das per Pressemitteilung. Wenn es überall nur Verlierer gibt, müssen eben die Opfer als Helden herhalten.

Mit Stolz vermeldet das Militär zudem, dass schon am Mittag "ungefähr 150 Ziele erfolgreich angegriffen worden" seien. Im Visier sind, wie von Netanjahu angekündigt, vor allem die Tunnelanlagen der Hamas. Zehn sind schon in den ersten Stunden des Einmarschs entdeckt worden, heißt es. In Israel gelten die Tunnel als enorme Bedrohung - spätestens, seit der Soldat Gilad Schalit von einem palästinensischen Terrorkommando im Sommer 2006 durch einen solchen Tunnel in den Gazastreifen verschleppt und fünf angstvolle Jahre später gegen 1100 palästinensische Gefangene ausgetauscht wurde.

Ein weit verzweigtes unterirdisches Reich

Auch am Donnerstag hatte es ein 13 Mann starker Trupp der Hamas wieder durch einen unter der Grenze hindurch gegrabenen Tunnel nach Israel hinein geschafft. Ihr Angriff galt vermutlich dem nahegelegenen Kibbuz Sufa. Doch sie standen von Beginn an unter Beobachtung. Auf einem von der Armee verbreiteten Video ist zu sehen, wie die Angreifer nach oben kommen - und wie sie gleich darauf durch Beschuss von einem Flugzeug aus zum Rückzug gezwungen werden. Am Ende ist der Vorfall nicht mehr gewesen als eine Erinnerung daran, was alles drohen kann. Doch dies dürfte den letzten Anstoß gegeben haben, nun mit Bodentruppen weitere Tunnel zu suchen und zu zerstören.

Um die Tunnel unter Gaza ranken sich viele Mythen. Früher lief über die unterirdischen Pfade nach Ägypten das gesamte Schmuggelgeschäft. So wurden die Hamas mit Waffen und die 1,8 Millionen Bewohner des Gazastreifen mit dem Nötigsten und obendrein noch mit Hühnchenbeinen von "Kentucky Fried Chicken" versorgt. Diese Schmuggeltunnel allerdings sind im vergangenen Jahr von den Ägyptern geflutet oder gesprengt worden.

Doch immer noch soll die Hamas tief unten im Wüstenboden über ein weitverzweigtes unterirdisches Reich herrschen. Hierhin ziehen sich ihre Anführer bei Gefahr zurück, hier lagert ein Großteil der Waffen, und von hier aus werden auch durch Abschussluken hindurch Raketen auf Israel abgefeuert, die vorher nicht zu orten waren. 230 Angriffe auf Tunnelanlagen hat die Armee in den vergangenen zwei Wochen bereits geflogen. Aber offenbar war dies noch nicht genug, um die Gefahr zu beseitigen - vor allem nicht durch jene "Terror-Tunnel", die mit bergmännischem Fachwissen nach Israel hineingetrieben werden.

Sexualberatung in Tel Aviv

Kritik am Bodenkrieg ist in Israel kaum zu hören. Immer schon ist die Nation zusammengerückt in solchen Zeiten. Die Regierung hat versprochen, die Ruhe wiederherzustellen - also wird getan, was dazu nötig ist. Im Süden rings um den Gazastreifen ist das Leben tatsächlich derzeit bestimmt vom Schrillen der Sirenen.

In Tel Aviv mit weit weniger Alarmgeheul und mehr Eskapismus-Erfahrung wird der Krieg dagegen eher als Belästigung denn als Bedrohung wahrgenommen. Er drückt auf die Stimmung, er zehrt an den Nerven, doch genügend Leute finden noch genügend Zeit, um zum Beispiel zu einem Vortrag von "Dr. Ruth" zu gehen, der amerikanischen Sexualtherapeutin Ruth Westheimer.

Sie ist mittlerweile 86 Jahre alt, hat den Holocaust überlebt und kennt Tel Aviv seit jenen Tagen, als sie in der Hagana, der vorstaatlichen jüdischen Untergrundarmee, als Scharfschützin diente. Ein Krieg wie dieser also kann sie nicht abschrecken, und so lässt sie sich nun befragen zur besten Position beim Sex im Bunker. Grundsätzlich empfiehlt sie dem Publikum, sich auch im Krieg Zeit für Liebe zu nehmen.

Stille Antwort auf den dröhnenden Krieg

Gaza ist da ganz weit weg. Zu weit weg, findet Dorian Levine. Die 29-jährige Keramik-Künstlerin macht am Freitagmittag mit einem gecharterten Reisebus Station in Tel Aviv. Er ist von ihr und ihren Mitstreitern mit Blumen und aufrüttelnden Spruchbändern versehen worden. "Kein Krieg mehr und kein Blutvergießen", steht darauf. Dieser "Bus of Peace" bricht besetzt mit 40 Friedensfreunden am Mittag auf in Richtung Gazastreifen.

Levine beruft sich bei ihrer Aktion auf den legendären Abie Nathan, einen früheren israelischen Luftwaffe-Piloten, der zum Friedensaktivisten umschulte. 1966 war er einmal mit einem "Friedensflugzeug" in Kairo gelandet, später betrieb er 20 Jahre lang von einem Schiff im Mittelmeer aus einen Piratensender namens "Voice of Peace". 2008 ist er in Tel Aviv gestorben, nun soll sein Vermächtnis per Bus belebt werden.

Es ist eine ziemlich hippiehafte, ziemlich naive, ziemlich stille Aktion - und damit vielleicht die einzig noch mögliche Antwort auf das dröhnende Kriegstreiben. Ein paar Tage zuvor waren in Tel Aviv auf dem Platz vor dem Staatstheater ein paar linke Friedensdemonstranten von rechten Schlägertrupps vermöbelt worden.

Nun tragen sie ihre Botschaft des Dialogs direkt an die Kriegsgrenze. "Eigentlich wollten wir Medikamente in den Gazastreifen bringen, aber das geht ja nicht", sagt Dorian Levine. "Doch so können wir wenigstens eine andere Stimme sein in der israelischen Gesellschaft, und ich hoffe, dass wir damit die Menschen in Gaza erreichen."

Hamas droht mit mehr Entführungen

Dort allerdings hören die Bewohner gerade nichts anderes als Kanonendonner. Die Einschläge sind auch im Hintergrund zu hören, wenn man mit Sami Elajrami telefoniert, der gerade im Norden des schmalen Küstenstreifens unterwegs ist. Der 45-jährige palästinensische Journalist berichtet von "Geisterstädten", aus denen die Menschen in panischer Angst vor dem israelischen Einmarsch geflohen seien. Komplett abgetaucht sei überdies die Hamas. "Wir sehen hier keinen von ihnen", sagt er, "sie verstecken sich."

Schon beim vorigen Einmarsch israelischer Bodentruppen zum Jahresbeginn 2009 waren die Führung und mit ihr auch ein Großteil der Kämpfer im Untergrund verschwunden. Den Preis für die Invasion zahlte die Bevölkerung. Auch damals waren mehr als die Hälfte der 1400 Toten dieses Krieges Zivilisten. Wie viel also wirklich vom Kampfgebrüll zu halten ist, mit dem die Hamas auf die israelische Bodenoffensive reagiert, wird sich noch zeigen müssen.

Die größte Gefahr für Israels Soldaten dürfte ohnehin nicht im direkten Beschuss, sondern in allfälligen Entführungsversuchen stecken. In den ersten Tagen der Luftangriffe konnte man in Gaza-Stadt noch den Hamas-Sprecher Fauzi Barhum treffen, der vergnügt den Eindruck verbreitete, dass er den Israelis am liebsten eine Einladung zum Einmarsch schicken würde - weil dann die Geiselnahme so viel einfacher würde und man nicht einmal mehr Tunnel graben müsste. "Am Ende müssen sie im Austausch all unsere Gefangenen freilassen", frohlockte Barhum. Allerdings hat er auch falsch gelegen mit der Prognose, dass die Israelis "keinen einzigen Zentimeter nach Gaza hineingehen werden".

Ziemlich weit sind sie sogar schon am ersten Tag des Bodenkriegs ins Feindesland vorgestoßen, und Verstärkung ist im Anmarsch. 18 000 zusätzliche Reservisten sind am Freitag einberufen worden. Als Benjamin Netanjahu am Mittag sein Kabinett versammelt, ist von der nächtlichen Zurückhaltung nicht mehr allzu viel zu spüren. "Dies ist der zehnte Tag, dass Israels Städte unter Terrorangriffen leiden", sagt er. "Wir haben die israelischen Streitkräfte angewiesen, sich auf die Möglichkeit einer ernsthaften Ausweitung der Bodenaktivitäten einzustellen."

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