Nahost-Konflikt:Nur nicht schwächeln

Nur wer zurückschlägt, bleibt Sieger: Israelis und Palästinenser nach der "gezielten Tötung" des Hamas-Führers Jassin.

Von Moshe Zimmermann

(SZ vom 25.3.2004) - Quem deus vult perdere prius dementat, sagte der Römer, wen Gott vernichten will, den lässt er erst verrückt werden. Die Geschichte lehrt, dass nicht nur Menschen, sondern auch ganze Völker nach dieser Regel handeln - wie sollte man sonst erklären, was in der Weimarer Republik oder im Amerika der "Prohibition" geschah? Nun ist zu befürchten, dass Israel als Kollektiv im Begriff ist, sich den verrückt gewordenen Völkern anzuschließen.

Draußen lauert die Vergeltung

Hätte man das Attentat auf Jassin zum Zweck der Bekämpfung oder gar der Eliminierung des palästinensischen Terrors verübt - dann wäre ja zu erwarten, dass die Massen auf die Straßen gehen, um ihre Begeisterung über das Ende der Schreckenszeit des Terrors zum Ausdruck zu bringen. Warum blieben diese Demonstrationen aus? Weil jeder Israeli weiß, dass die "gezielte Tötung" von Scheich Jassin, dem "Erzterroristen", der palästinensischen "Bin-Laden-Kopie", die auch "Kollateralschaden" in Form von toten Zivilisten verursacht hat, die Ära des Terrors nicht beenden, ihn nicht einmal verringern, sondern weiter schüren wird. Die typische Reaktion der israelischen Mutter seit der "Liquidierung" von Scheich Jassin ist, die Kinder nicht aus dem Haus zu lassen und die Pizza für sie nach Hause zu bestellen. Denn draußen lauert der Terror, die Vergeltung.

Kollektive Mentalität beider Völker

Wie ist es also zu erklären, dass etwa 60 Prozent der Israelis das Attentat auf Jassin instinktiv gutheißen? Ist es Rache? Eine allzu simple Antwort, die die kollektive Mentalität der beiden Völker missversteht. Es geht hier um eine sonderbare Logik, der zufolge das Ziel auf beiden Seiten nur eins ist: von sich aus kein Zeichen der Schwäche, der Ermüdung abzugeben. Man muss Stärke und Ausdauer demonstrieren, weil Schwäche die Kapitulation verursacht, sogar Kapitulation bedeutet. Man darf nicht kapitulieren, man darf nicht verlieren. Statt zuzugeben, dass es in diesem Konflikt um das Wohl der Siedlungen in den besetzten Gebieten geht oder um fundamentalistische Maximen, nennt man ihn "den Kampf um das eigene Haus", was keinen Ausstieg ermöglicht. Ich töte, ergo sum - das ist im Prinzip der Sinn der gezielten und ungezielten Tötungen, der Vergeltungen und Rückvergeltungen.

Teufelskreis dreht sich weiter

Nicht nur der "einfache Mann auf der Straße", sondern auch der Stellvertreter des Ministerpräsidenten, Ehud Olmert, macht es deutlich - all das, was Israel unternimmt, wird den Terror nicht unmittelbar aufhalten. Der geplante Rückzug aus dem Gazastreifen hat nicht das Ziel, sagte er, den Terror zu verringern. Was etwa so viel bedeutet wie: "Seid beruhigt, der Terror geht weiter, der Kampf gegen den Terror geht weiter." Als hätte man Angst davor, dass der Terror aufhört, der Teufelskreis zum Stillstand kommt und sich dann die Frage stellt: Ist es nicht an der Zeit, uns aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen und mit den gesprächsbereiten Palästinensern zu verhandeln? Als wäre eben das ein Zeichen der Schwäche, das man auf jeden Fall meiden muss. Man schlägt also zu, man tötet, man bleibt stark. Hauptsache: Der Feind hat ein Signal erhalten - wir schwächeln nicht, wir harren aus. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Rückzug ohne Ausweg

Und doch, diese Haltung ist nicht so überraschend, wenn man die lange Reihe der Fälle betrachtet, die uns die Geschichte der verrückt gewordenen Völker vorführt. Sie erklärt den Hang zum Fatalismus, der den Ausstieg aus dem Teufelskreis blockiert. So beschäftigt man sich nicht mit der Frage, wo ein Fehler begangen wurde und wie man eine Wende herbeiführen könnte; man begnügt sich mit dem Axiom "Die Palästinenser haben uns immer terrorisiert, ergo gibt es kein Ausweg, der über Verhandlungen erfolgt."

Das erklärt auch den eigentlichen Sinn des Zauns, der Mauer, die man jetzt errichtet, und den geplanten Rückzug aus Gaza: Da eine Verhandlung mit den Palästinensern unmöglich ist, plant man den Alleingang: Wir, ohne Zustimmung des Feindes - und die Palästinenser gelten nicht nur bei der israelischen Rechten ausschließlich als Feinde - schaffen Tatsachen. Nicht weil wir einen sinnvollen Kompromiss anstreben, nicht weil wir entlang einer legitimen Grenze eine Barriere gegen Terror errichten wollen, selbstverständlich nicht, weil wir kapitulieren. Sondern weil wir es so wollen!

Im Kreislauf der Gewalt

Dabei radikalisiert sich die Handlungsweise immer weiter: Dass die Mauer auf palästinensischem Gebiet und nicht entlang der international anerkannten Grünen Linie gebaut wird, dass dadurch Palästinenser enteignet und ghettoisiert werden, ist für die Mehrheit der Israelis kein Problem mehr, da das eigentliche Ziel ja die Demonstration von Stärke ist. Auf palästinensische Demonstranten zu schießen, gilt im Kampf gegen den Terror sowieso als berechtigt. Wenn sich linke Israelis an die Anti-Mauer-Demonstrationen anschließen wird auch auf sie geschossen. Wenn die Frage gestellt wird: Was kommt nach der Tötung von Super-Terrorist Jassin, so wird der Öffentlichkeit ohne weiteres eine Liste von potenziellen Zielen der "gezielten Tötung" präsentiert, die länger ist als die Liste der bereits "liquidierten" Ziele. Und diejenigen, die sich im Kreislauf der Gewalt befinden, merken nicht, wie sehr sich ihre Philosophie und ihre Handlungsweise radikalisiert haben.

Bedroht vom eigenen Militär

Die Situation, in der ich mich während dieser Intifada am ehesten bedroht fühlte, hatte nicht mit einem Selbstmordattentat zu tun. Mein täglicher Weg nach Jerusalem führt über die Hauptstraße 443, die zum Teil durch besetzte Gebiete verläuft. An der Straßensperre stand einmal ein Soldat, dem mein Tempo nicht gefiel. Plötzlich blickte ich in seinen Gewehrlauf. Auf meinen Protest, es sei nicht seine Aufgabe, das Gewehr auf mich zu richten, nur weil ich für seinen Geschmack nicht langsam genug fuhr, antwortete er: "Es ist meine Aufgabe, euch Zivilisten vor Terror zu beschützen, und das tue ich, auch wenn ich dafür auf dich schießen muss." Damit war die Logik auf den Punkt gebracht.

Die Regierung rief Minister und Parlamentarier nach dem Attentat auf Jassin auf, die Straße 443 zu meiden, Anschläge seien zu befürchten. Bisher dehnte man diese Empfehlung nicht auf alle Israelis aus. Trotzdem gibt es keinen Anlass zum Protest. Wenn sich ein Terrorangriff auf der Straße 443 ereignet, folgt garantiert die Vergeltung. Nur nicht schwächeln.

Der Autor leitet das Richard Koebner Center for German History an der Hebräischen Universität in Jerusalem und lebt in Tel Aviv.

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