Nahost:Der Krieg der Bilder

Sieben Tote am Strand von Gaza: War es ein Granatenangriff Israels? Oder eine explodierende palästinensische Landmine? Ein Beispiel, wie Palästinenser manchmal die Wahrheit verbiegen.

Thorsten Schmitz

Am vergangenen Freitag stand die zehn Jahre alte Huda Ghalija schon früh auf, obwohl sie gar nicht in die Schule musste. Sie war aufgeregt. Die letzten Examen waren geschrieben, und die großen Sommerferien hatten gerade begonnen. Hudas Vater Ali hatte seinen Kindern versprochen, an jenem Freitag voriger Woche am Strand im Norden des Gaza-Streifens ein Picknick zu veranstalten.

Huda Ghalija, Foto: AFP

Das Bild der zehn Jahre alten Huda Ghalija ging um die Welt

(Foto: Foto: AFP)

Huda ist nach den Worten eines Cousins eine der Klassenbesten, sie liebe Mathe, Biologie und Lesen. Ihr Lieblingsgedicht stammt aus der Feder Mahmud Darwischs, "Identitätskarte" heißt es, ein trauriges Poem über einen heimatlosen Palästinenser und dessen Hass auf den Besatzer.

Beladen mit Plastiktischen und -stühlen, mit gekochten Maiskolben und Pitabroten machte sich die große Familie aus der 35.000-Einwohner-Stadt Beit Lahija auf den kurzen Weg zum Strand. Beit Lahija ist für seine Erdbeeren bekannt, aber auch dafür, dass von hier aus Kurzstreckenraketen auf Israel abgefeuert werden.

Für den Vater, eine seiner zwei Ehefrauen und fünf seiner Söhne und Töchter sollte das Picknick tödlich enden. Gegen 17 Uhr explodierte eine Granate inmitten der Familie. Sieben Menschen verloren an diesem Freitagnachmittag noch im Sand oder im Krankenwagen ihr Leben.

Das blutige Picknick machte Huda Ghalija innerhalb weniger Stunden weltweit bekannt. Das hat sie dem Kameramann Zakarija Abu Harbed zu verdanken. Nur wenige Augenblicke nach der Explosion der Schrapnell, einer mit Metallkugeln gefüllten Granate, befand sich der 36 Jahre alte Kameramann aus Gaza-Stadt samt Kamera und vollen Akkus am Ort des Unglücks.

Ein lukrativer Job

Harbed arbeitet für die arabische TV-Produktionsfirma Ramattan News Agency. Die Agentur verfügt über Büros in Ramallah im Westjordanland und in Gaza-Stadt, der Hauptstadt des Gaza-Streifens.

Die großen TV-Sender aus aller Welt, CNN und ABC, Nachrichtenagenturen wie Reuters und Associated Press, auch deutsche TV-Anstalten arbeiten fast ausschließlich mit palästinensischen Kameramännern, wenn es um Berichte aus dem Gaza-Streifen geht.

Die Bilder von der hoffnungslosen Welt im Gaza-Streifen werden in erster Linie von Palästinensern gemacht. Als Kameramann für westliche Medien zu arbeiten gilt als einer der lukrativsten Jobs in den Palästinensergebieten. Manche verdienen bis zu 250 US-Dollar am Tag. Soviel verdienen manche palästinensische Großfamilien nicht einmal in einem halben Jahr.

Kameramann Harbed hatte am vergangenen Freitag Berufsglück: Er war als Erster am Ort des Unglücks. Seine Agentur Ramattan News Agency verkaufte die herzzerreißenden Bilder der hysterisch und in Tränen aufgelösten Huda Ghalija an Fernsehsender in der ganzen Welt. In Australien wie in Indien, in Europa wie in den USA wurden Harbeds Aufnahmen von Huda gezeigt: Wie sie sich die Haare rauft und auf die Brust schlägt, wie sie neben ihrem toten Vater in den Sand versinkt, wie sie ganz alleine Dutzende Meter durch den Sand rennt.

In der arabischen Welt und in den Palästinensergebieten stand die Ursache der Tötung der Ghalija-Familienmitglieder schon am Freitag fest: Granaten Israels. Zu dieser Behauptung beigetragen haben auch Archivbilder israelischer Soldaten, die Artilleriegeschosse abfeuern, die manche arabische Fernsehsender in den Film von Kameramann Harbed hineingeschnitten haben.

Nach Ansicht der von der Hamas geführten Autonomiebehörde, aber auch nach Auffassung von Fatah-Chef und Präsident Machmud Abbas sind die Ghalijas durch israelischen Beschuss getötet worden. Sie benutzten beide das Wort von einem "Massaker". In seltener Einigkeit erklärten Hamas-Regierungschef Ismail Hanija und Abbas noch am Samstag, sie würden Huda symbolisch adoptieren und für den Rest ihres Lebens für ihren Lebensunterhalt aufkommen.

Ein palästinensisches Kind, das seinen Vater verloren hat, gilt als Waise. (Hudas leibliche Mutter Hamdia überlebte die Detonation verletzt.) Auch die Recherchen eines Teams der US-Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch führten zu dem vorläufigen Ergebnis, dass Israel für die Granatenexplosion verantwortlich sei.

Der Krieg der Bilder

Die Gruppe formuliert allerdings vorsichtig und weniger apodiktisch: Nach Interviews mit Opfern, Augenzeugen, Polizisten und Ärzten und einem Besuch des Unglücksorts hege man "starke Vermutungen", dass israelische Artillerie für das Unglück haftbar sei. Der Bericht der Menschenrechtsgruppe erwähnt allerdings nicht, dass deren Rechercheure erst einen Tag nach dem Unglück am Strand nach Beweisen gefahndet haben - genug Zeit also, um wichtige Beweisstücke zu entfernen.

Nahost: Der Chef der palästinensischen Autonomiebehörde besuchte Huda Ghalija nach dem Anschlag

Der Chef der palästinensischen Autonomiebehörde besuchte Huda Ghalija nach dem Anschlag

(Foto: Foto: AFP)

Das israelische Verteidigungsministerium hat nach ersten Auswertungen von Radar- und Satellitenbildern erklärt, das Geschoss, das zum Tod der sieben Palästinenser geführt hat, stamme nicht von der Armee. Generalstabschef Dan Halutz sagt, Israel bedauere den Tod der sieben Palästinenser, dies bedeute aber nicht "dass wir dafür verantwortlich sind".

Nach Ermittlungen der israelischen Armee, die sich nur auf Bilder und Arztbefunde, nicht aber auf Recherchen vor Ort beziehen, hat die israelische Armee an jenem Freitagnachmittag sechs Granaten in Richtung Gaza-Strand abgefeuert. Nach Angaben von Halutz schlugen fünf der sechs Granaten in der Zeit zwischen 16.31 und 16.48 Uhr ein - rund 250 Meter nördlich jener Stelle, an der das Familienpicknick stattgefunden hatte. Mit dem Artilleriebeschuss sollten palästinensische Raketenwerfer abgehalten werden.

Ein unbemanntes Flugzeug der israelischen Armee hat den Gaza-Streifen zum Zeitpunkt des Beschusses aus der Luft gefilmt. Auf den Filmen sieht man einerseits fünf Einschlaglöcher der Granaten im Strand, aber auch 250 Meter südlich davon Menschen. Nach Angaben der Armee muss die Explosion an dem Strandabschnitt, an dem die Ghalijas picknickten, zwischen 16.57 und 17.10 stattgefunden haben. Vor 16.57 ist auf dem Film der Armee normales Strandtreiben zu sehen.

Dass die Menschen auf die fünf Granateinschläge in 250 Metern Entfernung nicht mit überstürzter Flucht reagiert haben, ist seltsam. Die nächste Aufnahme auf dem Armeefilm zeigt Krankenwagen, wie sie am Strand ankommen. Das ist um 17.15 Uhr. Das Krankenhaus, wo die Krankenwagen herkamen, liegt fünf Minuten vom Explosionsort entfernt.

Möglicher Blindgänger

Über den Einschlagsort der sechsten Granate, die nach Aussagen der Menschenrechtsgruppe und der Palästinenserregierung als Blindgänger den Tod der sieben Familienmitglieder herbeigeführt habe, kann die israelische Armee keine Angaben machen. Sie hält es aber für "ausgeschlossen", dass die Granate ganze 250 Meter von ihrem Ziel abgewichen sein soll.

Als weiteren Beweis führt Israel an, dass es vier Verletzte vom Strand in Krankenhäusern in Tel Aviv behandelt. Aus dem Körper eines der Verwundeten seien Splitter geborgen worden, die nicht von Waffen aus dem Arsenal der israelischen Armee stammen könnten.

Die israelische Armee schließt nicht aus, dass es sich bei der Detonation auch um eine Mine gehalten haben könnte, die von Palästinensern dort vergraben worden sei, um israelische Marinesoldaten daran zu hindern, im Gaza-Streifen an Land zu gehen.

Angesichts der sich widersprechenden Aussagen kommt Harbeds Fernsehbildern große Bedeutung zu. Diese allerdings werfen mehr Fragen auf, als dass sie zur Klärung beitragen. Die Originalaufnahmen sind inzwischen so fragwürdig, dass CNN sie auf seiner Website nur noch sehr verkürzt zeigt.

Der SZ erklärte Harbed, er sei von den Rettungssanitätern über die Explosion unterrichtet worden und im eigenen Wagen den Krankenwagen hinterhergefahren. Auf seinen Bildern allerdings filmt Harbed die Hysterie der zehnjährigen Huda, als sei er Zeuge der Detonation gewesen. Auch filmt er die Ankunft der Sanitäter, er muss also schon vorher am Strand gewesen sein. Zudem sind manche der Toten und Verletzten mit Tüchern abgedeckt - wer hat das getan?

Harbed erklärt, Huda sei kaum verletzt worden, da sie im Meer gebadet habe. Auf seinen Bildern allerdings läuft Huda in trockener Straßenkleidung herum. Minutenlang rennt Harbed der schreienden Huda hinterher und schwenkt mit seiner Kamera zu den Toten und Verletzten.

Plötzlich ist ein Mann neben Hudas totem Vater zu erkennen, der eben noch zugedeckt reglos dalag und nun aufsteht, in der Hand ein Maschinengewehr. Auf den Bildern des Kameramanns sind auch Sanitäter in grüner OP-Kleidung zu erkennen sowie Dutzende Männer, die meisten mit Hamas-typischen Vollbärten, die offenbar Beweisstücke sicherstellen.

Allerdings muss man fragen, weshalb die Sanitäter sich nicht um die Verletzten kümmern und keine Polizisten den Ort sichern. Haben die Hamas-Männer, wie israelische Medien palästinensische Augenzeugen zitieren, Beweisstücke entfernt?

Ausweichende Antworten des Kameramanns

Seltsam ist auch, weshalb auf den Bildern Harbeds kein Krater zu erkennen ist. Je mehr Kameramann Harbed von der SZ beim Telefoninterview gefragt wird, desto mehr weicht er aus. War er vor der Ambulanz am Unglücksort? Wer sind die Zivilisten, die den Strand säubern? Wer ist der bewaffnete Mann am Boden, der plötzlich aufsteht? Wenn es eine Granate der israelischen Armee war, die die Ghalija-Familienmitglieder getötet hat, weshalb präsentieren die Palästinenser dann nicht deren Splitter?

Und: Warum kam Harbed nicht auf die Idee, die hysterische Huda zu beruhigen, anstatt sie minutenlang mit seiner Kamera zu verfolgen? Harbed sagt: "Sie hat mich gebeten, sie zu filmen. Sie wollte mit ihrem Vater gesehen werden und der Welt zeigen, welche Verbrechen Israel begeht." Die in Trauer aufgelöste zehnjährige Huda, die eben sieben Familienmitglieder verloren hat, soll Harbed Regieanweisungen erteilt haben?

Pallywood

Dass Palästinenser im Nahost-Krieg um die Bilder fälschen oder falsche Bilder in Umlauf bringen, ist nicht neu. In den Medien spricht man seit einer aufsehenerregenden Dokumentation des US-Magazins "60 Minutes" von "Pallywood" - in Anlehnung an Hollywoods Filmindustrie. In der Dokumentation sind zum Beispiel Palästinenser aus der jüngsten Intifada zu erkennen, die einen Toten auf einer Trage tragen. Einer stolpert, der angebliche Tote fällt auf den Boden - und springt behend wieder zurück auf die Trage, legt sich hin und mimt einen Toten.

Jüngstes Beispiel für den Versuch von Palästinensern, die Weltöffentlichkeit an der Nase herumzuführen, ist der Angriff der israelischen Luftwaffe am vergangenen Dienstag auf drei Mitglieder des "Islamischen Heiligen Kriegs", bei dem acht Zivilisten, unter ihnen zwei Kinder, getötet wurden. Kurz nach dem Angriff auf das Auto, in dem die Mitglieder der Terrorgruppe saßen, sieht man drei Männer, wie sie in Windeseile eine Kurzstreckenrakete aus dem Auto entfernen.

Seit zwei Tagen blinkt auf der Internetseite der TV-Produktionsfirma Ramattan News Agency der Satz "Dringend: Nachricht für unsere Kunden". Als hätte die Firma Angst vor einer weiteren Verbreitung der Huda-Bilder, deren Authentizität von vielen Menschen angezweifelt wird, weist sie darauf hin, dass sie die alleinigen Rechte an den Bildern besitzt. Niemand habe das Recht, die Bilder ohne Einwilligung von Ramattan News Agency weiterzuverbreiten.

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