Naher Osten:Warum ein Kurdenstaat nicht wahrscheinlich ist

160824_ch_3

SZ-Grafik

  • Der türkische Präsident Erdoğan hat zum ersten Mal eine Bodenoffensive in Syrien angeordnet. Er will die Grenzstadt Dscharbalus von Terroristen befreien - und meint damit neben dem IS auch die kurdischen Kämpfer der YPG.
  • Sollte die YPG ihre Ziele erreichen, würde zwischen der Türkei und Syrien ein kurdisch kontrollierter Landstreifen entstehen.
  • Doch die Kurden der verschienenen nahöstlichen Länder sind sich nicht so einig, wie manche denken. Sie trennen sprachliche, historische und politische Differenzen.

Von Tomas Avenarius

So verfeindet die vier Nachbarstaaten immer waren: Wenn es gegen die störrische Minderheit in den Bergen ging, wurden die Türkei, der Irak, Syrien und Iran schnell, für kurze Zeit und in wechselnden Bündnissen gern zu allerbesten Freunden. Und wenn die seltsamen Allianzen dann zerbrachen, taten die Herrscher, was sie schon immer getan hatten: Sie wiegelten die Kurden im Nachbarland gegen deren Regierung auf, um gleichzeitig die Kurden im eigenen Land blutig zu unterdrücken. Am Ende waren die Kurden stets die Verlierer - verkauft, verraten, an ihrer eigenen Uneinigkeit gescheitert.

Jetzt scheint sich das Szenario im syrischen Bürgerkrieg zu wiederholen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, bisher einer der erbittertsten Feinde von Syriens Herrscher Baschar al-Assad, schickt seine Panzer über die Grenze. Nicht, um sie in Richtung Damaskus rollen zu lassen. Nein, er will Terroristen bekämpfen.

Und zwar nicht nur die vom Islamischen Staat (IS), sondern auch die Kurden: die syrischen Kurden, die als YPG-Volksverteidigungseinheiten gegen den IS kämpfen. Sie wurden von Assad während der ersten Kriegsphase in einem Zweckbündnis in Ruhe gelassen und dienen nun der westlichen Anti-IS-Koalition als Stoßtruppe.

Von den Wirren den syrischen Bürgerkrieges haben die Kurden profitiert

Die syrischen Kurden haben die Schwäche Assads konsequent genutzt. In den Wirren des mittlerweile knapp sechsjährigen Bürgerkriegs zwischen Assad und den sunnitischen Aufständischen haben die säkular eingestellten Kurden ihren Herrschaftsbereich immer weiter ausgedehnt.

Das Szenario eines zusammenhängenden, autonomen oder gar unabhängigen Kurdengebietes im Nachbarland Syrien aber schreckt Ankara weit mehr als die IS-Mörderbande. Sollte die YPG ihre territorialen Ziele erreichen, würde zwischen der Türkei und Syrien ein kurdisch kontrollierter Landstreifen entstehen - von der syrischen Kurdenhauptstadt Kamischli im Osten bis nach Afrin im Westen, also fast bis an das Mittelmeer. Der "kurdische Korridor", die syrischen Kurden nennen ihr Siedlungsgebiet "Rojava", würde entlang der syrisch-türkischen Grenze zudem bis zum irakischen Kurdengebiet verlaufen: aus dem kurdischen Fleckenteppich im Nahen Osten entstünde eine zusammenhängende Region.

Im Irak leben die Kurden seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 weitgehend unabhängig von der Bagdader Zentralregierung. Sie haben offiziell keinen eigenen Staat, ihre "Autonome Region" könnte aber zu einem werden: Ein Parlament, einen Präsidenten und eine Flagge haben die irakischen Kurden bereits.

Die Kurden sind nicht so einheitlich wie man meint

Ein zumindest geografisch zusammenhängendes Kurdengebiet im Irak und in Syrien wäre nach Ansicht der türkischen Regierung eine geradezu historische Aufforderung an die türkischen Kurden, sich im Südosten der Türkei ebenfalls ihr eigenes Kurdengebiet zu erkämpfen. Auf der Landkarte betrachtet, ergäbe das durchaus Sinn. In Wahrheit aber sind die Kurden in den vier nahöstlichen Staaten - also der Türkei, Syrien, Iran und dem Irak - nicht so einheitlich, wie es die Bezeichnung Kurde auf den ersten Blick vermuten lässt.

Die 35 Millionen Kurden entstammen zwar einem, historisch gesehen, sehr alten Volk. Sie bezeichnen sich gern als weltweit größtes "Volk ohne eigenen Staat". In Wahrheit aber sprechen die Kurden nicht nur mindestens drei sehr unterschiedliche Dialekte, die manche als Sprache begreifen. Sie sind sich politisch oft auch spinnefeind. Die syrischen, irakischen, iranischen und türkischen Kurden haben sich gegenseitig immer wieder bekämpft, an die Regierungen der Nachbarländer verkauft, die angeblichen Brüder verraten.

Die syrischen und türkischen Kurden stehen sich sehr nah

Besonders die irakischen Kurden waren untereinander lange zerstritten und führten einen Bürgerkrieg. Die syrischen und die türkischen Kurden hingegen verbindet etwas, was die Regierung in Ankara zu Recht skeptisch macht: die PKK, die Kurdische Arbeiterpartei. Die militante, linksgerichtete Gruppe hatte seit Beginn der Achtzigerjahre in der Türkei für Unabhängigkeit oder Autonomie gekämpft. Nach einer kurzen Phase der Gespräche zwischen Ankara und der PKK herrscht nun wieder offener Krieg.

Die syrischen Kurden aber sind der PKK eng verbunden: Die YPG ist ein Franchise-Produkt der PKK, politisch und militärisch - die syrischen Kurden zählen zu den Gefolgsleuten von PKK-Gründer Abdullah Öcalan. Wie die irakischen Kurden sind die syrischen Kurden zwar sunnitische Muslime, aber ebenfalls sehr säkular ausgerichtet. Das macht die YPG-Kämpfer, unter ihnen viele Frauen, zur idealen Kampfgruppe gegen den IS. Dass wegen des Kriegs gegen das IS-Kalifat aber eine syrische Kurdenregion in der Hand einer PKK-nahen Organisation entsteht, das ist Erdoğans Albtraum.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: