Nach Tod des Attentäters von Toulouse:"Man hätte ihn in Tränengas ersäufen müssen"

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Fast 33 Stunden hatte sich der Serienmörder Mohamed Merah in seiner Wohnung in Toulouse verschanzt, bevor Mitglieder eines Spezialkommandos ihn durch einen Kopfschuss töteten. Doch nicht einmal einen Tag danach entflammen in Frankreich die Diskussionen - über die Länge und das Ende des Einsatzes, die Polizei-Eliteeinheit RAID an sich und das Versagen der Geheimdienste.

Melanie Staudinger und Lena Jakat.

Warum wollte die Polizei Merah in seiner Wohnung stellen?

Die Einsatzkräfte wollten den Verdächtigen nach Einschätzung von Beobachtern im Schutze der Dunkelheit überraschen, als sie am Mittwochmorgen um drei Uhr das erste Mal zugriffen. Dafür spricht, dass sie die Bewohner des Mehrfamilienhauses nicht vorgewarnt hatten. Diese wurden erst Stunden später in Sicherheit gebracht. Zudem war Eile geboten: Mohamed Merah hatte einer Journalistin des Senders France 24 in einem nächtlichen Telefonat angekündigt, dass er weitere Attentate plane.

Wieso dauerte die Belagerung von Merahs Wohnung so lange?

Der Einsatz verlief nicht wie geplant. Nach der gescheiterten Festnahme verhandelten die Einsatzkräfte stundenlang mit Merah, zwischendurch kündigte dieser an, sich ergeben zu wollen. Offiziell war das wichtigstes Ziel, den 23-Jährigen lebend zu stellen, damit er sich für die Morde an drei jüdischen Kindern, einem Religionslehrer und drei Soldaten vor Gericht verantworten muss. Und keinesfalls durch seinen Tod zum Märtyrer werden könnte.

Nach dem unglücklichen Ende der Belagerung gab es viel Kritik, unter anderem aus Israel. "Wer wartet denn schon 30 Stunden, wenn es keine Geiseln gibt? Der ganze Einsatz scheint wie eine Vorführung der Dummheit", sagte der frühere Chef der israelischen Elite-Polizei, Alik Ron, der Zeitung Maariv.

Warum setzte die Polizei kein Tränengas ein?

Die Frage stand schon während der Belagerung im Raum. Schlagzeilen machte sie am Tag nach der Operation - in Form harscher Kritik: "Man hätte ihn in Tränengas ersäufen müssen", sagte Christian Prouteau der Regionalzeitung Sud-Ouest. Prouteau ist Gründer der Groupe d'intervention de la Gendarmerie nationale, kurz GIGN, einer Spezialeinheit der Gendarmerie Nationale, vergleichbar mit der deutschen GSG 9. "Das hätte er keine fünf Minuten ausgehalten."

Prouteau attackierte die Eingreiftruppe RAID direkt. "Wie kann es sein, dass die beste Einheit der Polizei es nicht schafft, einen einzelnen Mann aufzuhalten?", fragte Prouteau vorwurfsvoll. Die Operation sei "ohne klares taktisches Schema" ausgeführt worden. Unterstützung erhielt Prouteau von Christian Etelin, Merahs Anwalt: Der Tod seines Mandanten sei "die logische Folge" der von der Polizei verfolgten Strategie gewesen, so Etelin.

Warum die Polizei auf den Einsatz von Schlafgas verzichtete, versuchte Laurent Borredon bereits am Donnerstag in seinem sicherheitspolitischen Blog zu beantworten. Das Gas gehöre nicht zum Strategie-Katalog der RAID, schrieb er. Bei einem solchen Einsatz würden sich zwei Fragen stellen: Wie leitet man das Gas in die Wohnung? Und: Wie kann es gelingen, dass der Verdächtige ohnmächtig wird, ohne das Gas zu bemerken? Selbst wenn es gelänge, das Gas von Merah unbemerkt in die Wohnung zu leiten, "gibt es immer noch das Problem der Phase zwischen dem Moment, indem er bemerkt, dass er betäubt werden soll und dem effektiven Verlust des Bewusstseins." Die Reaktionen des Attentäters seien unvorhersehbar. "Suizid, Schusswechsel, oder ganz einfach: Flucht in ein anderes Zimmer", schrieb der Journalist. In den beiden ersten Fällen sei die Operation auf einen Schlag verloren. Im letzten Fall wäre "das Vertrauen, das der Unterhändler mühsam aufgebaut hat, unwiederbringlich zerstört".

Warum greift GIGN die RAID an?

RAID, die Sondereinheit der Police Nationale, und GIGN, die Spezialkräfte der Gendarmerie, haben nicht nur ein ähnliches Einsatzgebiet, sie verbindet auch eine tiefe Rivalität. Die GIGN ist bekannt für spektakuläre Einsätze im Ausland wie die Beteiligung an der Befreiung der besetzten Großen Moschee in Mekka 1979 oder an der Niederschlagung eines Separatistenaufstandes in Neukaledonien. Dass die Operation in Toulouse der Polizeieinheit RAID übertragen wurde, lag daran, dass die Polizei seit dem ersten Mord am 11. März die Ermittlungen leitete, die zu den Streitkräften zählenden Gendarmen hingegen nicht beteiligt waren. Als die Situation eskalierte, bat die Polizei ihre Eliteeinheit um Unterstützung.

Jean Guisnel vom Wochenmagazin Le Point schreibt, es wäre immer wieder das Gleiche: "Sobald die Politik mit einem spektakulären und medienträchtigen Eingriff eine Einheit beauftragt, die nicht die GIGN ist, fängt der Streit an. Dieser wird gewöhnlich von denen begonnen, die glauben, dass die Elite-Gendarmen besser sind als die Elitepolizisten, und speziell von denen, die glauben, dass Letztere in Anti-Terror-Einheiten nichts zu suchen haben."

Wie konnte der Serienmörder noch aus dem Fenster springen?

Diese Frage ist noch nicht geklärt. Anwesende beschreiben die Situation als sehr unübersichtlich. Der 23-Jährige habe sich im Bad versteckt, als die Polizei am Donnerstagvormittag in seine Wohnung eingedrungen war. Innenminister Claude Guéant berichtete später, Merah sei "mit äußerster Gewalttätigkeit" um sich schießend aus dem Bad gekommen. Dann sei er mit der Waffe in der Hand aus dem Fenster gesprungen und dabei laut Staatsanwaltschaft von Scharfschützen erschossen worden. RAID-Chef Amaury de Hauteclocque sagte Le Monde: "Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden gesehen habe, der uns angreift, obwohl wir ihn gerade angreifen."

Wie konnte Merah die Taten begehen, trotz Beobachtung durch Geheimdienste?

Merah, der sich in Gesprächen mit der Polizei zum Terrornetzwerk al-Qaida bekannte, geriet bereits vor seiner Mordserie ins Visier der französischen und amerikanischen Geheimdienste. Dennoch gelang es ihm, ein stattliches Waffenarsenal aufzubauen, darunter eine Kalaschnikow und eine Uzi-Maschinenpistole. Frankreichs Außenminister Alain Juppé sprach von einer "Schwachstelle", die es in den Geheimdiensten gegeben haben könnte.

Auch Staatsanwalt und Chefermittler François Molins kritisierte, was der Inlandsgeheimdienst aus seinen Informationen über Merah machte. Bei dessen Rückkehr aus Afghanistan soll Merah zwar zu einer Unterredung zitiert worden sein. Dabei habe er angegeben, am Hindukusch Ferien gemacht zu haben und Fotos gezeigt. Daraufhin sei er wohl nicht weiter behelligt worden. Nach Angaben von französischen und amerikanischen Behörden verbrachte Merah 2010 und 2011 einige Zeit mit militanten Islamisten an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Aus US-Geheimdienstkreisen war außerdem zu erfahren, dass der 23-Jährige auf einer Flugverbotsliste der USA stand.

Außerdem fiel er schon als Minderjähriger mehrfach wegen kleinerer Delikte auf und saß wegen Handtaschenraubs im Gefängnis. Eine Frau aus Toulouse hatte Merah zudem vor knapp zwei Jahren angezeigt, weil er ihrem Sohn Al-Qaida-Videos gezeigt haben soll.

Frankreichs Regierungschef François Fillon verteidigte das Verhalten der Sicherheitsdienste. Es habe keine Möglichkeit gegeben, den Franzosen mit algerischen Wurzeln vor seinen Taten zu ergreifen, sagte er dem französischen Radiosender RTL. "In einem Land wie unserem haben wir nicht das Recht, jemanden ohne gerichtliche Anordnung ständig zu beobachten, der kein Verbrechen begangen hat", erklärte Fillon. "Wir leben in einem Rechtsstaat."

Hatte Merah Komplizen?

Die französische Polizei hat bereits Merahs Burder festgenommen, in dessen Auto ebenfalls Waffen gefunden worden waren. Dieser bestreitet, von den Plänen seines Bruder gewusst zu haben. Experten sind sich jedoch weitgehend einig, dass Mohamed Merah kaum alleine gehandelt haben kann. "Eine solche Aktion kann man nicht ohne Mittäterschaft durchführen", sagte der al-Qaida-Experte Mathieu Guidére der Zeitung Le Figaro. Jemand müsse Merah zumindest Waffen und Munition geliefert haben.

Staatsanwalt François Molins sagte, dass die Ermittlungen so lange fortgesetzt würden, bis "alle Komplizen" gefunden worden seien. Nach Merahs Tod hatte sich zudem eine islamistische Gruppe gemeldet und sich zu den Serienmorden von Toulouse bekannt. Bisher konnte noch nicht verifiziert werden, ob Merah tatsächlich Verbindungen zu der al-Qaida nahestehenden Gruppe hatte.

Könnte sich ein ähnlicher Fall auch in Deutschland ereignen?

Verfassungsschützer warnen, dass auch hierzulande Täter wie der Serienmörder von Toulouse zuschlagen könnten. "Das ist die Gefahr, vor der wir seit Jahren warnen", sagte Niedersachsens Verfassungsschutzpräsident Hans-Werner Wragel. Nach bisherigen Informationen sei Merah scheinbar integriert gewesen und habe sich radikalisiert, ohne einem Netzwerk anzugehören. "Dieser Täter scheint in das Profil eines radikalisierten Einzeltäters zu passen", sagte Wragel. In Deutschland gebe es seit 2009 eine "intensivierte Gefährdungssituation". Gerade aus Afghanistan und Pakistan würden junge Muslime in Europa aufgerufen, in ihrer Heimat Anschläge zu verüben. Und außerdem gab es ja auch die NSU, die rechtsextreme Zwickauer Terrorzelle, die über Jahre eine Mordserie in Deutschland verübte, ohne entdeckt zu werden.

Mit Material von AFP, dpa und Reuters

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