Nach Referendum in Türkei:Politiker warnen vor Spannungen in der deutsch-türkischen Gemeinde

Das Referendum in der Türkei löst in Deutschland altbekannte Reflexe, aber auch neue Befürchtungen aus. Grüne Politiker fordern mehr Geld, um Erdoğans Einfluss hierzulande zu verringern.

Von Stefan Braun, Berlin

Nach dem Referendum kommt die Sorge vor neuen Krisen. Während die Kanzlerin und ihr Außenminister mahnende Worte Richtung Ankara senden, nutzen viele Parteipolitiker von CSU bis Linkspartei das Ergebnis, um alte Forderungen nochmal ganz neu zu erheben. Die Grünen dagegen lenken den Blick auf die drohenden Spannungen in der türkischen Gemeinde - und plädieren dafür, sich um diese künftig viel intensiver zu kümmern.

Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel melden sich am Montagmorgen gemeinsam zu Wort. Niemand soll denken, es gebe nach dem Votum in der Türkei unterschiedliche Sichtweisen in der Bundesregierung. Beide schreiben, man nehme das vorläufige Ergebnis "zur Kenntnis" und respektiere das Recht der türkischen Bevölkerung, über seine Verfassung zu entscheiden. Dann freilich verweisen Merkel und Gabriel auf das knappe Ergebnis und lesen es als Beleg dafür, dass die türkische Gesellschaft tief gespalten ist. Deshalb trage Präsident Erdoğan "eine große Verantwortung" für die Zukunft seines Landes; Berlin erwarte, dass die Regierung in Ankara "einen respektvollen Dialog" mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften in der Türkei suchen werde.

Dahinter steckt nicht nur eine allgemeine Mahnung, sondern auch die Botschaft, dass die Bundesregierung einen möglichen EU-Beitritt der Türkei formal nicht aufgeben möchte. Im Gegenteil schreiben Merkel und Gabriel, sie erwarteten von der türkischen Führung, dass sie gerade jetzt der Mitgliedschaft im Europarat, in der OSZE und als EU-Beitrittskandidat Rechnung tragen werde. Um dieses Ziel zu erreichen, plädieren beide für "schnellstmögliche politische Gespräche", bilateral und auf EU-Ebene. Wer will, kann die Merkel-Gabriel-Botschaft als Mahnung, aber auch als ausgestreckte Hand für einen neuen Anfang mit der Türkei interpretieren.

Politiker aus CSU und FDP fordern Ende der Beitrittsverhandlungen

Anders klingen die Reaktionen von jenen, die sich in solchen Fällen immer und in der Sache immer gleich äußern. Der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer twitterte am Morgen, die türkische Gesellschaft habe sich nun selbst für den Türkxit entschieden. Scheuers Parteikollege, der Europaabgeordnete Manfred Weber ist wie stets im Ton konzilianter, erklärt aber auch, dass die "Lebenslüge" um eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU endlich beendet werden müsse. Und auch der im Ton meistens gemäßigte FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff betont, man müsse sich "endlich von diesem gescheiterten, zombiehaften Prozess" der Beitrittsverhandlungen verabschieden. Statt dessen müssten alle Gespräche endlich auf eine "ehrliche Grundlage" gestellt werden.

Nicht minder erwartbar sind die Rufe derer, die alle deutschen Soldaten aus der Türkei abziehen und dem Nato-Partner Türkei auch keine Waffen mehr liefern möchten. Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht fordert das genauso wie Grünen-Parteichef Cem Özdemir. Wagenknecht sagte, die Bundesregierung müsse sich nun entscheiden, ob sie auf der Seite der Demokraten stehe oder auf der Seite der Diktatur. Özdemir betonte, Berlin und Brüssel müssten das Verhältnis zur Türkei überhaupt ganz neu überdenken.

Der Grüne allerdings lenkt den Blick auch auf die Situation in der türkischen Gemeinde. Er beklagt angesichts von gut sechzig Prozent Zustimmung zu Erdoğans neuer Verfassung gravierende Versäumnisse bei der Integration - und ruft zugleich dazu auf, sich um jene intensiver zu kümmern, die gegen Erdoğan gestimmt hätten. Laut Özdemir solle künftig stärker darauf geachtet werden, "dass auf Dauer in Deutschland Lebende nicht nur mit den Zehenspitzen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, sondern mit beiden Füßen". Hilfe bräuchten gerade jetzt vor allem jene Menschen, die sich für die Demokratie eingesetzt hätten.

Von einer gescheiterten Integration könne keine Rede sein

Dass viele türkisch-stämmige Politiker neue Spannungen in der türkischen Gemeinschaft befürchten, ist am Montag vielerorts zu hören. Manche berichten, dass zahlreiche Erdoğan-Gegner seine Anhänger dazu aufriefen, doch in die Türkei zurückzugehen. Öffentlich will dem am Tag nach dem Referendum aber niemand neue Nahrung geben. Stattdessen fordern Kommunalpolitiker wie Hilime Arslaner-Gölbaşı, Grünen-Politikerin im Frankfurter Stadtparlament, die bundesdeutsche Gesellschaft auf, sie müsse sich endlich mehr um die zahlreichen türkischen Moschee-Vereine, Kulturfestivals bis hin zur Kinder- und Schülerbetreuung kümmern. "Nur wenn nicht mehr Erdoğan und die Türkei, sondern deutsche Vereine und Parlamente all das finanziell unterstützen, wird der Einfluss Ankaras abnehmen", sagte Arslaner-Gölbaşı.

Einen interessanten Blick auf das Abstimmungsverhalten der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen lieferte der frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz. Er verwies darauf, dass es in Deutschland 3,5 Millionen Türkeistämmige gebe, davon seien 1,5 Millionen wahlberechtigt gewesen. Von denen sei gerademal die Hälfte zur Abstimmung gegangen. Und von denen hätten rund 63 Prozent für Erdoğan gestimmt. Anders ausgedrückt: Von 3,5 Millionen Türkeistämmigen hätten rund 450 000 für die neue Verfassung gestimmt, das seien rund 13 Prozent. Angesichts dieser Zahlen könne bei aller Sorge um die Lage von einer gescheiterten Integration kaum die Rede sein, so Polenz.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: