Nach Pussy-Riot-Prozess:Glaubenskrieg der Provokateure

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Angriffe auf Pussy-Riots-Fans, Hotels speziell für Gläubige, Patrouillen um Kathedralen: Nach dem Gerichtsurteil gegen die Punkband zeigen Kirchentreue in Russland verstärkt Flagge. Zugleich provozieren Unbekannte Religion und Politik mit umgestürzten Kreuzen.

Frank Nienhuysen, Moskau

Es ist die Stunde der Provokateure und der Symbolik. Moskau, Pawelezkij- Bahnhof: Zwei junge Männer stoppten dieser Tage auf ruppige Art einen Mann, der gerade den Express-Zug zum Flughafen Domodedowo nehmen wollte. Sie rissen ihm das T- Shirt vom Leib, weil es die Mutter Gottes mit Strumpfmaske zeigte. Eine Anspielung auf die Punkgruppe "Pussy Riot" und in den Augen der beiden Männer eine Beleidigung für alle Gläubigen in Russland. Dann bekreuzigten sie sich, derweil der nunmehr Entblößte ohne Hemd nonstop zum Flughafen fahren musste.

Pussy Riot und die Kirche: Hier demonstrieren Anhänger in Strumpfmasken auf einer Kathedrale in Zürich.  (Foto: AP)

Tscheljabinsk am Ural sowie das Gebiet Archangelsk, weit entfernt im hohen Norden: Fast zeitgleich kippten Unbekannte mindestens vier Holzkreuze aus ihrer Verankerung und lösten Empörung in der russischen Orthodoxie aus. Der Priester Wsewolod Tschaplin, zuständig für das Verhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft, sprach von "symbolischen Aktionen, mit denen der Wille der Bevölkerungsmehrheit bezwungen werden soll". Die Polizei rief er auf, die Verantwortlichen zu finden und zu bestrafen.

Umgekippte Kreuze beschäftigen auch die Politik

Am Dienstag bekannte sich eine Gruppe namens "Volkswille", die der Kirche angeblich drohte, dass diese unter dem "ungerechten Urteil gegen Pussy Riot" zu leiden haben werde. Drei Frauen dieser Band waren wegen ihres umstrittenen Auftritts in der Erlöserkathedrale vor knapp zwei Wochen zu jeweils zwei Jahren Haft verurteilt worden. Seitdem wird der Ton in der Konfrontation schärfer.

Die Serie umgekippter Kreuze beschäftigt allerdings nicht nur Russlands Kirche und die heimischen Medien, sondern auch die Politik. Alexander Sidjakin, Abgeordneter der Regierungspartei Einiges Russland, fordert nun, die Schändung von Heiligtümern unter Strafe zu stellen. Ein entsprechender Gesetzentwurf werde gerade ausgearbeitet und könne bereits im September in das russische Parlament eingebracht werden. Sidjakin beruft sich dabei nach Berichten russischer Medien auf die Gesetzgebung in Deutschland und Österreich, wo für "Beschimpfung von Bekenntnissen" bis zu drei Jahren Haft drohen.

Sidjakin hat sich bereits in den vergangenen Monaten als Autor von Gesetzesnovellen sehr eifrig gezeigt. Denn der als Patriot geltende Abgeordnete hatte auch das verschärfte Demonstrationsgesetz vorangetrieben, und das umstrittene "Agentengesetz", das dem Staat eine stärkere Kontrolle der russischen Nichtregierungsorganisationen sichert, war ebenfalls maßgeblich von ihm ausgearbeitet worden.

Aber auch junge kirchentreue Aktivisten zeigen in Russland zunehmend Flagge und wollen offenbar gegenhalten im Kampf um Aufmerksamkeit, nachdem die Zahl der Unterstützer für Pussy Riot offensichtlich gewachsen ist. Junge orthodoxe Gläubige baten das Justizministerium, Shirts pro Pussy Riot als extremistisch einzustufen. Die russisch-orthodoxe Bewegung "Swjataja Rus" (Die Heilige Rus) kündigte zudem Patrouillen an, mit denen sie des nachts die Kathedralen der Hauptstadt vor Vandalen sichern wollen. Wie sehr die Kirche ihren Einfluss in Russland derzeit zu mehren versucht, wird auch an zwei anderen Fällen symbolhaft deutlich.

Der Leiter des Moskauer Tourismus-Ausschusses, Sergej Schpilko, kündigte in der Zeitung Iswestija an, dass in der Hauptstadt gleich ein ganzes Netz von Hotels entstehen soll, die ausdrücklich den Bedürfnissen von Gläubigen entsprechen sollen. Derart ausgerichtet sei derzeit lediglich das Hotel Universitetskaja, das einen eigenen Gebetsraum habe, religiöse Zeitschriften, Ikonen an den Zimmerwänden und spezielle Ausflüge anbiete.

Noch stärker allerdings dürfte eine andere Neuerung die russische Gesellschaft in Zukunft beeinflussen. Wenn in den kommenden Tagen in Russland das nächste Schuljahr beginnt, wird nach mehr als 90 Jahren erstmals wieder landesweit der Religionsunterricht eingeführt. Mehr als zehn Jahre lang hatte es darüber eine intensive Debatte gegeben, ehe vor drei Jahren der damalige Präsident Dmitrij Medwedjew, gestützt auf frische Umfragen, in mehreren Regionen einen Versuchsunterricht anordnete. Nun wird die Wahl zwischen einem Fach über die christliche Orthodoxie, Islam, Buddhismus und jüdischer Religionskunde sowie Ethik zur Pflicht.

Die mächtige orthodoxe Kirche wertete den Versuch als gelungen, was wenig verwunderte, denn kein religiöses Wahlfach wurde häufiger genommen als die "Grundlagen der orthodoxen Kultur". Noch mehr Schüler hatten sich beim Testlauf allerdings für den Ethikunterricht entschieden.

© SZ vom 29.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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