Nach EU-Gipfel und ESM-Abstimmung:Europa lebt

Die Ergebnisse des Euro-Gipfels sind respektabel und beweisen: Europa funktioniert, auch wenn es knirscht. Dass in Deutschland nun debattiert wird, ob die Euro-Rettungsmechanismen dem Grundgesetz entsprechen ist wichtig. Für Europa ist diese Diskussion aber nicht mehr als eine von vielen nationalen Kontroversen.

Kurt Kister

Europa funktioniert. Diese Feststellung mag vielen als sonderbar erscheinen, zumal jenen, die jeden zweiten Tag den Untergang Deutschlands, der Demokratie, der Währung und, ganz nach jeweiligem Standpunkt, der nationalen Souveränität oder des europäischen Traums prognostizieren.

In diesem Euro-Apokalypsismus vereinen sich so unterschiedliche Charaktere wie Peter Gauweiler und Paul Krugman, Alexis Tsipras und Thilo Sarrazin, Gregor Gysi und Vaclav Klaus. Ihnen allen ist zu eigen, dass sie das komplizierte, komplexe Europa eher als Gefährdung denn als Versprechen oder gar Erfolg sehen. Und außerdem zählen manche der prominenten Kritiker zu jener lagerübergreifenden Spezies der Rechthaber, die, wären sie denn Fußballer, sich permanent das Trikot vom Leibe reißen würden.

Europa funktioniert, auch wenn es furchtbar knirscht. Der jüngste EU-Gipfel hat unter den gegebenen Umständen ein respektables Ergebnis erbracht. Die Umstände sehen so aus: Zwischen den wirtschaftlich stärkeren und den schwächeren Euro-Staaten bestehen tiefe Interessengegensätze, weil die einen mehr Geld, billigere Kredite auf Kosten der anderen wollen.

Während Deutschland, die Niederlande, aber auch östliche EU-Staaten billigeres Geld nur gegen stärkere Kontrollen ermöglichen wollen, sieht das der gebeutelte Euro-Süden anders. Nun gibt es aber keinen griechischen, deutschen oder finnischen Euro, sondern nur jene eine Währung, an deren Stärke und Erhalt allen gelegen sein muss.

Zwar dürfen die Euro-Staaten nach dem Wortlaut von Gesetzen und Verträgen nicht für die Schulden des jeweils anderen haften. Tatsächlich aber ist der Euro eine Verantwortungsgemeinschaft und durchaus auch eine, wenn auch nicht im wörtlichen Sinne, Haftungsgemeinschaft: Von Lissabon über Athen bis nach Berlin und Tallinn "haftet" jeder für die Wirtschafts- und Finanzpolitik der anderen mit Kaufkraft, Relation zu fremden Währungen und damit Exportchancen, Zinssätzen und vielem anderem mehr. Und genau das war auch so gewünscht bei seiner Einführung: Der Euro sollte als Katalysator für die politische Einigung dienen. Diese Funktion hat er bisher nicht so recht erfüllt.

Merkel ist keineswegs isoliert

Dies alles bedeutet, dass beim Management des Euro nationale Interessen und Gemeinschafts-Interessen so stark aufeinanderprallen wie in keinem anderen Politikbereich, der in der EU eine Rolle spielt. Angela Merkel, gleichzeitig deutsche Kanzlerin und wichtigste europäische Regierungschefin, muss beides unter einen Hut bringen. "Isoliert" ist sie keineswegs, auch wenn die Opposition im Inland und etliche EU-Regierungen dies gerne so darstellen.

Merkel spricht in der EU für jene, die eine zu starke Verschiebung in Richtung einer Transferunion fürchten. Es ist richtig, dass Merkel mit Verve für das auch spezifisch deutsche Interesse kämpft, nicht über Gebühr und vor allem nicht mit zu wenig Kontrollmöglichkeiten zur Kasse gebeten zu werden, etwa durch Euro-Bonds. Dass sie dabei gelegentlich von Maximalpositionen abweicht, wie jetzt wieder in Brüssel geschehen, ist ebenso unvermeidlich wie richtig. Die Schuldenkrise vieler Euro-Staaten ist so ernst, dass es neuer Gegenmaßnahmen bedarf.

Eine solche Maßnahme ist etwa die jetzt beim Gipfel beschlossene direkte Hilfe für Banken durch den ESM-Rettungsfonds. Zwar muss sie vom jeweiligen Staat beantragt werden, aber das Geld fließt nicht mehr über den Umweg stets höherer Staatsschulden an die gefährdeten Institute. Das ist prinzipiell gut, aber nur weil es zwingend an eine bald zu schaffende europäische Bankenaufsicht gekoppelt ist. Das ist das Verdienst von Merkel und anderen, die stets und stur mehr Kontrollen fordern.

In Europa kann kein einzelner Staat seine Interessen völlig oder auch nur überwiegend durchsetzen. Wer das glaubt, versteht nichts von der EU. Wer andererseits meint, nationale Interessen seien in Europa grundsätzlich hintanzustellen, der versteht nichts von Politik. Merkel versteht sowohl etwas von der EU als auch von der Politik. Das kann man konstatieren und trotzdem ihre Regierungspolitik zum Betreuungsgeld oder zur Energiewende für falsch sowie die Mehrzahl ihrer Minister und Ministerinnen für unterqualifiziert halten.

In Deutschland hat sich nun eine Debatte darüber entwickelt, ob die Instrumente der Euro-Rettung noch dem deutschen Grundgesetz entsprechen. Dies ist eine wichtige Diskussion, die auch vorangetrieben wird von den Karlsruher Richtern um ihren Präsidenten Voßkuhle. Der ist ein sehr politischer Jurist mit einer eigenen Agenda. Das ist nicht als Tadel gemeint, sondern einfach eine Beschreibung. Das Gericht meldet sich auch außerhalb der Verhandlungen zu Wort, zum Beispiel, indem es jüngst den Bundespräsidenten öffentlich aufforderte, von der sofortigen Ausfertigung des ESM-Gesetzes abzusehen. Es übt dergestalt auch politischen Druck aus, was nicht zu den genuinen Aufgaben des Verfassungsgerichts gehört.

Steinmeiers Jein-Spreizung

Andererseits besteht nur noch wenig Zweifel daran, dass die Verfassung demnächst an die europäisch bedingte fortschreitende Souveränitätsabgabe von Berlin nach Brüssel angepasst werden muss. Dies wird zwar nicht vor der nächsten Bundestagswahl geschehen, aber dennoch wird die nächste Bundesregierung die wichtige Aufgabe haben, mindestens einen neuen "Europa-Artikel" für das Grundgesetz zu formulieren. Und dann muss das so veränderte Grundgesetz einer Volksabstimmung unterworfen werden. Das ist nicht revolutionär, sondern entspricht der Verfassung.

Und es ist auch nicht umstürzlerisch, weil das Grundgesetz eben zu einer Zeit entstanden ist, in der man sich vieles, was heute Normalität geworden ist, nicht vorstellen konnte. Das reicht vom Staatenbund Europa bis hin zur Schwulenehe.

Eine Verfassungsänderung also wird es geben. Für Deutschland ist dies wichtig, für Europa allerdings ist es nicht mehr als eine der vielen nationalen Kontroversen, die sich im Spannungsfeld von nationaler und supranationaler Politik ergeben.

Ähnlich verhält es sich mit den Abstimmungen im Bundestag, deren manchmal schrille Begleitmusik oft parteipolitische Ursachen hat. Für die SPD ist es schwierig, ihre europapolitisch bedingte und meist gerechtfertigte Unterstützung der Kanzlerin dem eigenen Lager als kritische Oppositionspolitik zu verkaufen. Steinbrück kann das besser, Gabriel weniger, und Steinmeier ist in seiner verbalen Jein-Spreizung nachgerade mitleiderregend.

Gewiss, nicht immer ist Parteipolitik die Ursache solcher Kontroversen - schon allein deswegen nicht, weil Europapolitik eine profunde Vermischung von Außen- und Innenpolitik ist. Erstere wird eher von der Exekutive dominiert, Letztere von der Legislative. Bei so einer Lage muss es zu Konflikten zwischen Kanzleramt und Parlament kommen. Vieles von dem, was auch vor dem Verfassungsgericht ausgetragen wird, geht auf diesen institutionellen Konflikt zurück.

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