Nach der Volksabstimmung zu Stuttgart 21:Eine Protestbewegung packt zusammen

Stuttgart 21 kommt, was machen wir jetzt bloß? Nach der erfolglosen Volksabstimmung gegen das Bahnprojekt sucht die Protestbewegung ihre neue Rolle - und muss einen prominenten Abgang verkraften. Die grün-rote Landesregierung hofft auf mehr Demokratie für die Bürger und Frieden für die Koalition. Und die Bahn pocht auf ihr Recht.

Michael König, Stuttgart

Als alles vorbei ist, faltet ein S21-Gegner ein großes Ja-Plakat zusammen. Einmal längs, einmal quer und noch einmal längs. Es lässt sich jetzt bequem in die Tasche packen. Oder in ein Regal im Museum. Die Kampagne für den Ausstieg aus dem Bahnprojekt Stuttgart 21 ist beendet, die Baden-Württemberger haben Nein gesagt, die Bahnhofsgegner haben verloren. Es gibt am Tag nach der Volksabstimmung viele Szenen, die symbolisch für dieses Urteil stehen. Das gefaltete Plakat im Rathaus ist nur eine davon.

Das Aktionsbündnis gegen S21, in deren Räumen das Banner hing, ist spät dran. Gegen 15.30 Uhr treten die Sprecher Hannes Rockenbauch und Brigitte Dahlbender vor die Presse. Andere haben da schon abgerechnet. Rockenbauch verkündet, ein "Großer Ratschlag" am 4. Dezember solle klären, wie es mit dem Widerstand weitergehe. Es werde weiterhin protestiert werden, so viel sei klar. Womöglich nicht jeden Montag, aber dann, "wenn es an die Bäume und den Südflügel geht", wie Rockenbauch sagt. Man kann beinahe sehen, wie vor seinem inneren Auge Menschen mit Motorsägen im Schlosspark wüten.

Dahlbender zieht ihre Konsequenzen aus der Abstimmungsniederlage und tritt als Sprecherin zurück. Die Landesvorsitzende des BUND in Baden-Württemberg will künftig wieder hinter den Kulissen wirken. Zum Abschied bedankt sie sich "bei allen Menschen, die ich getroffen habe in dieser wundervollen Bewegung. Sie ist ein Geschenk für die Stadt und das Land und die Kultur in Baden-Württemberg."

Langes Schweigen und Buhrufe auf der Montagsdemo

Es klingt wie ein Nachruf, und vielleicht ist es das auch. Am Abend versammeln sich die Stuttgart 21-Gegner noch einmal auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof. Es ist die 101. Montagsdemo gegen den Bahnhof und die erste nach der Volksabstimmung. Die Veranstaltung ist gut besucht, die Bahnhofsgegner wollen sich ihre Resignation nicht anmerken lassen. Es herrscht ein Jetzt-erst-recht-Gefühl. Auf einem Transparent ist zu lesen: "Die FDP regiert mit drei Prozent, wir haben fast 50."

Dahlbender spricht zu den Protestierenden und erklärt ihren Rückzug. Erst herrscht ein langes Schweigen, dann folgen vereinzelte Buhrufe: "Ich bin jetzt nicht mehr eure politische Speerspitze, aber ich bin da, wenn ihr mich braucht". Ihr Sprecherkollege Rockenbauch ruft die Demonstranten dazu auf, weiter Widerstand gegen Stuttgart 21 zu leisten.

Ein ähnlicher Tonfall erklingt an diesem Montag an vielen Orten in Stuttgart, wenn auch weniger trotzig. Lange vor dem Aktionsbündnis ziehen die Politiker ihr Fazit. Bei den Regierungsparteien klingt das so: Ein tolles Ergebnis für die Demokratie, bitte noch mehr Bürgerbeteiligung. Aber jetzt wird weitergebaut, sofern die Bahn nicht den Kostenrahmen sprengt.

Grüne und Rote hatten vor der Abstimmung zum Teil rüde miteinander wahlgekämpft, jetzt gehen sie betont pfleglich miteinander um. "Es ist der Koalition gelungen, ein Konfliktthema demokratisch zum Guten zu wenden", verkündet Ministerpräsident Winfried Kretschmann am Morgen in der Landespressekonferenz. "Das ist ein sehr guter Beginn für die Phase, die wir jetzt kraftvoll angehen wollen."

Debatte um Änderung der Landesverfassung

Kretschmann, dem Versöhner, trauen viele Beobachter der Landespolitik zu, diese Phase erfolgreich zu gestalten. Vorausgesetzt, die SPD spielt mit. Am Montag signalisiert sie den Willen dazu. Im dritten Stock des Hauses der Abgeordneten, wo die Sozialdemokraten ihre Büros haben, ist schon Weihnachten. Fraktionschef Claus Schmiedel und Nils Schmid, Landesvorsitzender sowie Wirtschafts- und Finanzminister, nehmen direkt neben einem Christbaum Platz. Das ist auch so eine Szene mit Symbolcharakter. Die neue Besinnlichkeit.

Es werden Einigkeiten betont, und die meist zitierte lautet: mehr direkte Demokratie. Das irrwitzig hohe Quorum von 33 Prozent aller Wahlberechtigten, die für den Ausstieg hätten stimmen müssen, um die Volksabstimmung zu einem Erfolg zu machen, soll weg. "Wir möchten den Schwung nutzen, um die Landesverfassung entsprechend zu ändern, damit die Bevölkerung selbst die Initiative ergreifen und solche Abstimmungen in die Wege leiten kann", sagt der Ministerpräsident. Entsprechende Gespräche mit der Opposition seien angedacht.

Stuttgarter Politik kreist um sich selbst

Die aber sperrt sich. Die CDU ist nicht besinnlich oder kooperativ an diesem Montag, sie ist selbstbewusst. Landeschef Thomas Strobl und Fraktionschef Peter Hauk geben sich als Sieger der Abstimmung, sie zeleberieren die Leichtigkeit des Seins. Strobl wippt auf den Zehenspitzen, während er spricht: "Die CDU in Baden-Württemberg ist ein Stück weit erleichtert dank der klaren Entscheidung der Bürger." Hauk zerhackt mit den Händen imaginäre Holzscheiben, während er mit den Grünen abrechnet: "Mit Romantik und Träumen aus dem 19. und 20. Jahrhundert lässt sich heutzutage keine Politik mehr machen."

Kretschmann and Schmid react after first exit polls about the plebiscite of the controversial Stuttgart 21 underground railway station in Stuttgart

Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann (re.) versucht, in der großen Niederlage einen kleinen Sieg zu sehen. Bei Nils Schmid von der SPD schwingt in jedem Wort Kraft mit. Er sieht sich in seinem Pro-Stuttgart21-Kurs bestätigt.

(Foto: Reuters)

Und weil sie schon dabei sind, diktieren sie dem Ministerpräsidenten seine kommenden Aufgaben, und die Fristen gleich dazu. "Wir erwarten, dass sich Herr Kretschmann jetzt mit seinem Verkehrsminister zum Hauptbahnhof begibt und dort deeskalierend und beruhigend wirkt", sagt Strobl. Minister Hermann kenne sich "bei seinen Freunden" ja "bestens aus", sagt der CDU-Chef mit einem Schmunzeln. "Sie werden die Leute wieder von den Bäumen herunterholen müssen. Das ist die Aufgabe von jenen, die die Saat gesät haben." Nach einer Kunstpause fügt Strobl hinzu: "Ich würde damit nicht zu lange warten."

Das ist eine wohl kalkulierte Anmaßung, um dem Siegergefühl Ausdruck zu verleihen. Während bei den Grünen eine Art Schockstarre zu herrschen scheint - der Landesvorstand verliest eine dünne Erklärung mit sechs Punkten -, reagiert die SPD souverän. Zur Not könne man ja das Volk befragen, ob es mehr Volksbefragungen wolle, sagt Fraktionschef Schmiedel. Wirtschafts- und Finanzminister Nils Schmid knurrt mehr, als er sagt: "Vielleicht hat die CDU heute Morgen beim Aufwachen enttäuscht festgestellt, dass sie trotz der Volksabstimmung immer noch in der Opposition ist."

Eine Schar von Journalisten schreibt eifrig alles mit, aber sie kommt kaum nach. Pressekonferenz folgt auf Pressekonferenz. Ein Ächzen geht durch den Raum, als ein CDU-Sprecher verkündet, Landeschef Strobl werde nun 45 Minuten über die Fraktionssitzung reden. Es sind dann doch einige Minuten weniger.

Die Stuttgarter Politik kreist um sich selbst, aus Berlin werden allenfalls Randnotizen wahrgenommen. Dort geben Bahnchef Rüdiger Grube und Technik-Vorstand Volker Kefer ihre Sicht der Dinge wieder.

Die von Kretschmann am Abend der Volksabstimmung versprochene "kritisch-konstruktive Begleitung" reiche nicht aus, sagt Kefer: "Wir erwarten hier ganz klar eine aktive Unterstützung durch das Land." Der Konzern werde sich "mit der Landesregierung zusammensetzen, um die Projektförderung durch das Land zu konkretisieren." Es gehe um das gemeinsame Ziel, den Kostenrahmen von etwa 4,5 Milliarden Euro einzuhalten.

Finanzierungsfrage als letzter Strohhalm für die S21-Gegner

Die Kosten für S21 sind neben dem Streit um mehr Bürgerbeteiligung das zweite große Thema des Tages. Es ist ein weiterer Punkt, in dem sich Grün-Rot einig ist. "Wir werden den Bauherren Bahn darauf hinweisen, dass er die Pflicht hat, den Kostenrahmen einzuhalten." Der "Kostendeckel" dürfe keinesfalls "einreißen". Das sei für ihn eine "pure Selbstverständlichkeit", sagt Schmid. Die Union bügelt das Thema als "Nebenkriegschauplatz" ab. Es gebe keinerlei Anzeichen für eine Kostensteigerung, sagt Landeschef Strobl.

Die Frage nach dem Geld ist auch eine Art letzter Strohhalm für die Gegner. Deren Wortführer Hannes Rockenbauch deutet an, aus dem Aktionsbündnis künftig eine Art Wachhund machen zu wollen, das die Finanzierung haarklein überwacht. Dahinter dürfte der lang gehegte Traum stecken, S21 möge - wie ehedem der Transrapid in München - doch noch an der Kostenfrage scheitern. "Es darf kein weiteres Steuergeld in dieses Projekt verschwendet werden. S21 ist und bleibt Murks", sagt Rockenbauch.

Brigitte Dahlbender prophezeit, aus der Frage nach dem "Wie" könne beim Bau von S21 ganz schnell wieder das "Ob" werden. Eines sollten die Bahn und die Politiker nicht vergessen: "Es ist nicht so, dass uns niemand gefolgt wäre. 41 Prozent bei der Volksabstimmung sind nicht nichts, sondern 1,5 Millionen Menschen. Das heißt nicht, dass wir das Ergebnis der Volksabstimmung nicht respektieren. Aber es heißt auch nicht, dass die Bahn jetzt um jeden Preis planen darf, was sie will."

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