Nach der Flüchtlingskatastrophe:Vier Vorschläge, wie das Massensterben zu verhindern ist

700, vielleicht sogar mehr als 900 ertrunkene Flüchtlinge - in einer Nacht. Europa kann dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht weiter zusehen. Doch welche Möglichkeiten hat die Politik?

Von Paul Munzinger und Markus C. Schulte von Drach

"Nie wieder!" - das hörte man vor eineinhalb Jahren überall, nachdem vor der italienischen Insel Lampedusa 368 Flüchtlinge in einem Fischerboot gekentert und ertrunken waren. Doch die EU unternahm: nichts. Wird es diesmal genauso sein?

700, dem Bericht eines Augenzeugen zufolge sogar mehr als 900 Menschen sind in der Nacht zum Sonntag auf dem Weg von Afrika nach Europa ertrunken. Es ist die bisher schwerste Flüchtlingstragödie im Mittelmeer und es gibt keinen Grund zu der Hoffnung, dass es die letzte war. Allein in der vergangenen Woche starben mehr als 1000 Flüchtlinge auf dem Weg irgendwo auf dem Mittelmeer, von Schleppern in Nussschalen zusammengepfercht, von Europa im Stich gelassen. Und der "Migrationsdruck", so drückt es Innenminister Thomas de Maizière (CDU) aus, ist "unverändert hoch".

Wenn heute die Außen- und Innenminister der EU-Staaten in Luxemburg zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen, um über Konsequenzen aus dem neuerlichen Flüchtlingsdrama im Mittelmeer zu beraten, dann "können wir nicht zur Tagesordnung übergehen", sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Mit Recht erwarte die Öffentlichkeit, "dass sich die Politik mit dieser Tragödie, mit der Fortsetzung dieser Tragödie befasst". Doch welche Optionen hat die EU jetzt? Was kann, was muss sie tun, damit das Sterben aufhört?

Einrichtung eines europäischen Seenotrettungsprogramms

Nach der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa im Oktober 2013 rief Italien das Programm "Mare Nostrum" ins Leben. In einem Jahr wurden so mehr als 100.000 Menschen aus Seenot gerettet, 351 Schleuser wurden festgenommen. Doch Mare Nostrum wurde nicht verlängert. Der italienischen Regierung war das Programm zu teuer, die EU steuerte keine Hilfen bei.

Viele europäische Politiker, darunter auch de Maizière, sahen in Mare Nostrum einen Anreiz für Flüchtlinge, die Überfahrt nach Europa zu wagen - und einen Anreiz für Schlepper, immer mehr Menschen in nicht seetaugliche Boote zu pferchen. "Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen", sagte Thomas de Maizière im Oktober.

Am 1. November vergangenen Jahres löste "Triton", eine Mission der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex, das italienische Rettungsprogramm ab. Doch Triton, so warnte die damalige EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström ebenso wie Menschenrechtsorganisationen, könne Mare Nostrum "nicht ersetzen". Die neue Mission hatte nur ein Drittel des Budgets und keine eigenen Schiffe zur Verfügung. Und die Zielsetzung änderte sich: Statt Seenotrettung stand bei Triton Grenzsicherung im Vordergrund. Der Einsatzradius wurde auf einen schmalen 30-Meilen-Streifen vor der italienischen Küste zusammengezogen. Viele Flüchtlingsboote schaffen es gar nicht so weit.

Anfang Februar hat die EU Triton bis Jahresende verlängert, doch die Forderungen nach einer gesamteuropäischen Seenotrettung ohne 30-Meilen-Grenze, nach einer Neuauflage von Mare Nostrum, werden jetzt wieder lauter. Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte die Weltgemeinschaft, aber insbesondere die EU auf, sich der Flüchtlingskrise anzunehmen. Das Mittelmeer, sagte Ban, habe sich zur "weltweit tödlichsten Route" für Flüchtlinge entwickelt.

Über eine Neuauflage von Mare Nostrum wird auch heute in Luxemburg verhandelt werden. Das deutsche Innenministerium ist nach wie vor skeptisch. Mare Nostrum sei kein Allheilmittel, sagte ein Sprecher des Innenministers, eine Wiederaufnahme des Programms sei nicht die Position der Bundesregierung. Wenn die Seenotrettung aber integriert sei in ein Gesamtpaket zur Lösung des Flüchtlingsproblems, werde man sich dem nicht verschließen.

Gezieltes Vorgehen gegen Schlepperbanden

Wer Flüchtlingskatastrophen wie jene vor Lampedusa oder jetzt vor der libyschen Küste verhindern will, darf nicht erst auf See mit der Rettung beginnen. Die Bekämpfung der Schlepperbanden sei deshalb "ein zentraler Punkt", sagt Innenminister de Maizière. "Verbrecherische Schlepperbanden verdienen viel Geld mit der Reise bis und über das Mittelmeer. Organisierte Banden überfüllen untüchtige Boote und überlassen die Menschen ihrem Schicksal."

Die meisten Flüchtlingsboote legen in Libyen ab, zur italienischen Insel Lampedusa sind es nur 300 Kilometer. Und die Bedingungen für Schlepper sind günstig. In Libyen fehlt ein Staat, der ihre Strukturen zerschlagen könnte. De Maizière will deshalb nicht nur die europäische Zusammenarbeit, sondern auch die Strategien Europas enger mit jenen der afrikanischen Herkunfts- und Transitstaaten verzahnen.

"Eine international koordinierte Aktion gegen Schleuserbanden" fordert auch Frank-Walter Steinmeier. "Das wichtigste Transitland ist im Augenblick Libyen - ein Land, das dabei ist zu zerfallen, wenn wir nicht den Prozess unterbrechen und umkehren." Die EU müsse sich um eine Stabilisierung des Landes bemühen.

Im Fall Libyens wird zudem über einen zivilen oder gar militärischen Einsatz diskutiert, der dem Land Stabilität bringen und den Schleppern das Geschäft erschweren soll. Der maltesische Ministerpräsident Joseph Muscat hat ein UN-Mandat zum gezielten Vorgehen gegen Schlepperbanden angeregt. Wenn man die Flüchtlingsboote nicht bereits in Nordafrika am Ablegen hindere, würden sich Unglücke wie am Wochenende immer wiederholen.

Hilfe in den Krisenstaaten - oder in Europa?

Auffanglager in Nordafrika

Wenn Flüchtlinge gar nicht erst in überladene Boote steigen, dann ertrinken sie auch nicht. Dieser Logik folgt die Idee, Auffanglager für Flüchtlinge bereits in Transitstaaten in Nordafrika zu errichten. Besonders Innenminister de Maizière macht sich dafür stark, nur dass er nicht von Auffanglagern, sondern von "Willkommenszentren" spricht.

Bereits in Afrika soll in diesen Zentren geprüft werden, ob ein Asylgrund vorliegt oder nicht. Wenn ja, dann soll der Weg nach Europa über ein legales Asylverfahren ermöglicht werden. Wenn kein Asylgrund anerkannt wird, sollen die Flüchtlinge mit finanziellen Reizen dazu bewegt werden, in ihr Heimatland zurückzukehren, statt die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer zu wagen.

Doch egal, ob Willkommenszentren oder Auffanglager - die Idee stößt bei Menschenrechtsorganisationen auf Ablehnung bis Entsetzen. "Dieser Plan ist unrealistisch und wird eher dazu führen, dass die Menschen doch illegal auf das Meer gehen, um nach Europa zu gelangen", sagte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt im Dezember. "Da wird nur ein weiterer Festungswall um Europa gezogen." Die Vorstellung, dass die Flüchtlinge dann zu Hunderttausenden in Zeltstädten leben müssten, bezeichnete Burkhardt als "apokalyptische Vision".

Auch Justizminister Heiko Maas (SPD) steht dem Vorschlag skeptisch gegenüber. "Wenn die Flüchtlinge diese Zentren nicht als Tür, sondern als Mauer wahrnehmen, werden sie sich leider nicht abhalten lassen, weiter den Weg über das Meer zu suchen", sagte Maas.

Geregeltes Einwanderungsprogramm

De facto haben Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten wie Syrien kaum Möglichkeiten, legal nach Europa oder Deutschland zu kommen. Asyl kann nur beantragen, wer es auf europäischen Boden geschafft hat. Und mit Visa kommen Nichteuropäer nur herein, wenn die Behörden davon ausgehen, dass sie das Land auch wieder verlassen werden.

Ein Syrer, der in einer deutschen Auslandsvertretung etwa im Libanon oder Jordanien ein Touristen-Visum beantragen möchte, hat keine Chance. Es besteht sofort der Verdacht, dass er in Deutschland bleiben will. Seine einzige Möglichkeit ist der Versuch, illegal einzureisen - selbst dann, wenn er, einmal in Deutschland, gute Chancen auf Asyl hätte. "Es ist doch absurd, dass dieselben Flüchtlinge, die bei Ankunft in Europa Asyl- oder Bleiberecht bekommen, von der EU nicht vor dem Ertrinken gerettet werden", sagte der Menschenrechtsexperte der SPD-Bundestagsfraktion, Frank Schwabe.

Doch welche sonstigen Möglichkeiten haben Flüchtlinge, legal einzureisen? Einen Weg gab es in den vergangenen Jahren, zumindest für einige Syrer: Über Aufnahmeprogramme der Bundesregierung und aller Bundesländer außer Bayern. Für insgesamt 20 000 beim UNHCR registrierte Syrer bot das Programm des Bundes die Chance, nach Deutschland zu kommen. Die Zahl der Menschen, die sich in den Auslandsvertretungen um einen Platz darin bewarben, war um ein Vielfaches höher. Es wurde geprüft, ob jemand etwa eine medizinische Behandlung benötigte oder bereits eine Verbindung zu Deutschland hatte - das erhöhte die Chancen.

Die Länderprogramme boten darüber hinaus für einige Tausend Syrer die Möglichkeit einzureisen, wenn Angehörige bei den Ausländerbehörden in Deutschland für ihr Auskommen garantieren konnten. Doch die Kapazitäten dieser Programme sind erschöpft.

Im Rahmen des sogenannten "Resettlement"-Programms erlaubt die Bundesregierung seit 2012 jährlich 300 besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen, aus Erstaufnahmestaaten wie Tunesien oder der Türkei nach Deutschland zu kommen. Ab 2015 werden dafür 500 Plätze bereitgestellt - 500 Plätze. Frontex schätzt, dass allein in Libyen zwischen 500 000 und eine Million Flüchtlinge auf die Reise nach Europa warten.

Menschenrechtsaktivisten und Politiker wie EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) fordern deshalb eine neue Flüchtlingspolitik in Europa. "Wir können nicht an dem Symptom weiter herumdoktern, sondern müssen erkennen, dass wir ein Einwanderungsgebiet sind und eine legale, geordnete Einwanderungspolitik benötigen", sagte Schulz dem Kölner Stadt-Anzeiger. Er kritisierte den mangelnden Willen der EU-Mitgliedsstaaten. "Nichts bewegt sich. Und das liegt nicht an der EU, sondern am Unwillen der Hauptstädte der EU-Mitgliedsstaaten. Nicht aller, aber einiger", so Schulz. "Wie viel muss eigentlich noch passieren, damit es dort endlich begriffen wird?"

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