Nach der Bundestagswahl:Drei Politiker, drei Welten

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Die Woche in Berlin: Westerwelle badet in Euphorie, Steinmeier kämpft gegen die Lethargie, und Merkel legt sich wieder mal nicht fest. Der Abschied von der großen Koalition fällt nicht allen leicht.

Am Donnerstagabend gehen Angela Merkel und Guido Westerwelle ein letztes Mal getrennte Wege. Die Kanzlerin hat den Journalisten zum 60. Geburtstag der Bundespressekonferenz die Ehre erwiesen und verschwindet nun zügig zum Abschiedsessen der großen Koalition. Guido Westerwelle geht nur ins Foyer. Dort steht er und wippt. Auf die Zehenspitzen und zurück. Westerwelle wippt immer, wenn er von etwas begeistert ist, zum Beispiel von sich selbst.

Der Kabinettstisch ist derzeit verwaist. Das Geschehen spielt sich woanders ab. (Foto: Foto: dpa)

Westerwelle redet davon, dass selbst jene den Wahlerfolg der FDP, seinen Wahlerfolg, anerkennen müssten, "die mich noch in hundert Jahren nicht ausstehen können". Wenn man ihn richtig versteht, meint er die Medien, vor allem jene, die ihm den Erfolg nicht gönnen und auch in der Wahlnacht versucht hätten, aus einem großen Sieg einen kleinen zu machen. Die Abneigung Westerwelles gegen jene, bei denen er eine tiefe Abneigung gegen sich vermutet, scheint bei ihm genau so tief zu sitzen. "Kommen Sie mal an!", sagt Westerwelle. In der Wirklichkeit, meint er.

Westerwelle ist schon angekommen. In seiner Wirklichkeit. Der Erfolg der FDP habe alles verändert: "Die Zeit, in der es zwei große Parteien gab, die den kleinen wie Lehnsherren einen Acker zum Bestellen überlassen, sind vorbei." Und er hat auch eine klare Vorstellung davon, wie es weitergeht: Man werde in den Koalitionsverhandlungen ein gutes Ergebnis hinkriegen. Dann käme eine Phase der Kritik - das eine dürfe nicht so sein, das andere nicht so. Im Frühjahr 2010 aber werde das nächste Erfolgserlebnis folgen, sagt Westerwelle. "In Nordrhein-Westfalen wird die These widerlegt, dass Wahlen verliert, wer regiert." Die Zukunft also ist schwarz-gelb. Und Guido Westerwelle ist begeistert. Er verschweigt, dass er an diesem Tag auch schon darüber gesprochen hat, alles könne auch ganz anders kommen. ..

Doch erst einmal sitzt keine 500 Meter Luftlinie entfernt die Vergangenheit. Sie ist schwarz-rot, und Angela Merkel redet sehr nett darüber. Nur Heidemarie Wieczorek-Zeul und Sigmar Gabriel sind nicht zum Essen ins Kanzleramt gekommen. Die Abwesenheit der beiden spiegle auch deren Präsenz im Kabinett wider, sagt Merkel, und die Anwesenden lächeln wissend, weil Wieczorek-Zeul oft gefehlt hat, Gabriel sogar sehr oft, genau 45 Mal, wie jemand ausgerechnet hat.

Nicht ohne Emotionen

Diese Regierung habe sehr gut zusammengearbeitet, sagt Merkel. Die Koalition sei "institutionell schwierig" gewesen, habe aber "individuell funktioniert". Das sei für sie "eine sehr schöne Erfahrung" gewesen - ein Satz, der für Merkels Verhältnisse einem Gefühlsausbruch gleichkommt. Als Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede von einer Vernunftehe spricht, ruft Merkel nochmal dazwischen, auch die müsse "ja nicht ohne Emotionen sein".

Angela Merkel, Guido Westerwelle und Frank-Walter Steinmeier, drei Politiker, drei Welten in dieser zweiten Woche nach der Bundestagswahl - einer Woche, in der sich der politische Übergang deutlicher zeigt als in den Tagen zuvor. Westerwelle in Euphorie badend, Steinmeier gegen die Lethargie ankämpfend, Merkel irgendwo dazwischen, erleichtert über ihren Sieg, aber auch ein wenig erschöpft, wie es heißt. Eine Woche, in der die große Koalition immer kleiner wird, weil sie am Horizont der Zeit verschwindet, in der die neue Koalition aber noch nichts zustande gebracht hat, was auch sie groß machen würde.

"Keine Handvoll" in der Opposition

Ein Moment noch für die SPD. Ludwig Stiegler ist in Berlin, der bayerische Veteran, der nicht mehr kandidiert hat für den Bundestag. 1980 wurde er das erste Mal Abgeordneter, 1982 war die Regierung Schmidt am Ende, es folgten 16 Jahre Helmut Kohl. Stiegler hat mal durchgezählt, wie viele in der neuen SPD-Fraktion noch die Oppositionszeit erlebt haben. "Keine Handvoll", sagt er. All die anderen kennten die SPD nur als Regierungspartei und wüssten noch gar nicht, was nun auf sie zukomme. Einer dieser anderen heißt Frank-Walter Steinmeier.

Wer weiß schon, was Steinmeier wirklich denkt, als er gegen halb zwei am Freitagmorgen nach Hause fährt. Er wollte schon um Mitternacht gehen, hat sich dann aber beim Abschied nochmal zu Merkel und einigen anderen gesetzt, nur kurz, über eine Stunde, um genau zu sein. Fast so, als wolle er nicht raus aus dem Kanzleramt. Hier hat er erst unter Gerhard Schröder gearbeitet, später mit Angela Merkel. Am Schluss musste er selbst Kanzler werden wollen. Steinmeier ist ein viel zu rationaler Mensch, als dass man annehmen könnte, er habe selbst jemals wirklich daran geglaubt. Nun erzählt man sich in der SPD schon, er habe inzwischen selbst die Lust am Fraktionsvorsitz verloren. Öffentlich würde das natürlich keiner sagen.

Schwere Zeiten für Steinmeier

Aber man muss Steinmeier nur anschauen, in diesen Übergangstagen, und man spürt: Dem Mann ist nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Wenn er lächelt, dann allenfalls verkniffen. Teilnehmer der Kabinettssitzung am Mittwoch hatten den Eindruck, dass er gern darauf verzichtet hätte, als Wahlverlierer ein letztes Mal vor Kameras am großen Tisch neben Merkel zu sitzen. Steinmeier ahnt, dass auf ihn im Bundestag schwere, sehr schwere Zeiten zukommen. Wann und ob überhaupt die zusammengeschmolzene SPD-Fraktion einmal ein neues "Kraftzentrum" wird, wie Steinmeier zu sagen pflegt, weiß im Moment niemand. In dieser Woche hat er die ersten Gespräche darüber geführt, wer was werden könnte an der Spitze der Fraktion. Es gibt allerdings zu viele Bewerber für zu wenige Posten. Auch das gehört zur Erfahrung der Opposition, die Ludwig Stiegler schon hinter sich hat.

Steinmeier bekümmert etwas anderes noch viel mehr: Er muss in seinem neuen Job politische, ja fast persönliche Demütigungen fürchten. Ein ums andere Mal hat er auch diese Woche wieder gebeten und gemahnt, die Grundsätze der SPD-Regierungspolitik nicht aufzugeben, all das, was er selbst bis heute für richtig hält. Rente mit 67, Hartz IV, den Afghanistan-Einsatz. Sigmar Gabriel hat ihm versprochen, dass man nicht alles über Bord werfen wird. Doch der designierte Parteichef weiß selbst nicht, ob er diese Zusagen halten kann. Ob etwas von dem bleibt, was in elf Jahren geworden ist.

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Guido Westerwelle hatte jedes wichtige FDP-Parteiamt inne, das man bekleiden kann - in der neuen Regierung übernahm er nun das Amt des Außenministers. Eine Bildergalerie.

Und was ist entstanden in den elf Tagen seit der Wahl? Was hat die neue Koalition geschaffen, die Wunschkoalition aller Beteiligten, wie sie unentwegt versichern, als hätten sie selbst daran gewisse letzte Zweifel. Als Erstes einmal sind jede Menge Arbeitsgruppen für die Koalitionsverhandlungen entstanden. Klein sollten sie bleiben, groß sind sie geworden, was vor allem an der CSU lag. Niemand aus der Landesgruppe ist jetzt ohne Beschäftigung in den Gesprächen. Und weil Landesminister wie Beate Merk auch noch untergebracht werden mussten, sitzt sie jetzt auf einem Platz, der eigentlich der CDU zustünde. In der FDP wird alsbald gelästert über die "unglaublich straffe Arbeit in den Gruppen", wo jeder seinen Senf zu allem geben müsse.

CSU und FDP werden wohl so schnell nicht dicke Freunde. Die CSU halte sich nicht an Absprachen, heißt es in der FDP. Zu viel Gequatsche mit den Medien. Selbst Merkel soll sich gegenüber CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer schon über ein Hintergrundgespräch mokiert haben. "Mit denen kriegen wir noch Spaß", heißt es in der FDP. Umgekehrt wundert sich manch einer über die Methoden bei den Liberalen. Per SMS erlässt die Parteispitze Sprechverbote. Wenn doch etwas in die Zeitung kommt, spürt die Pressestelle möglichen Quellen nach. Mit der Abstimmung untereinander sind dagegen einige nicht sonderlich zufrieden. Manche Liberale wissen selbst nicht immer, welche Position sie nun eigentlich vertreten sollen.

So etwas wie Aufbruchstimmung ist schwer zu orten. In der FDP maulen sie über die Union, sie wolle am liebsten alles so lassen, wie es sei. Einer aus der CSU dagegen, der beide Koalitionsverhandlungen erlebt hat, vermisst den Kitzel von 2005: Damals hätten die Gespräche eine Atmosphäre gehabt, als säßen sich die USA und die Sowjetunion am Ende des Kalten Krieges gegenüber. 2009 dagegen sei mit der Koalition nichts Großes verbunden, keine Spannung. Diese Koalition erscheint so selbstverständlich, so normal. So langweilig.

Aber natürlich ist es die Wunschkoalition aller Beteiligten. Und manchmal könnte man es sogar glauben, so wie am Donnerstag in der Arbeitsgruppe Gesundheit. Ursula von der Leyen (CDU) ist an diesem Tag 51 Jahre alt geworden, und weil das so ist, hat sie ihren Fahrer beauftragt, mit dem Dienstwagen etwas Kuchen zu besorgen. Nichts Tolles, passend zur Kassenlage gibt es Blechkuchen, aber immerhin. Die anderen Unterhändler danken es ihr mit einem Ständchen, das der CSU-Politiker Wolfgang Zöller organisiert. Zöller ist ein leidenschaftlicher Hobbysänger, ehemaliger Vorstand eines Sängerchors, und wie er sagt, "ein großer Freund der deutschen Sprache". Deshalb singt die Arbeitsgruppe auch nicht "Happy Birthday", sondern "Zum Geburtstag viel Glück".

"Wir sind nicht angeschrien worden"

Vier Stunden später, nachdem sie Hiobsbotschaften vom Spitzenverband der Krankenkassen und vom Bundesversicherungsamt vernommen haben, verlassen die Gesundheitsexperten ihren Verhandlungsraum und erzählen den wartenden Reportern immer noch von guter Stimmung. Es mag in der Sache hart verhandelt worden sein. Doch vor allem die Unionsvertreter sind überrascht von den Umgangsformen des potentiellen Regierungspartners: "Wir sind heute kein einziges Mal angeschrien worden", sagt eine, die oft mit der SPD verhandelt hat.

Aber da ist ja noch die Geschichte, wie Guido Westerwelle das erste Mal ins Zweifeln gerät.

Die Generalsekretäre verlieren leere Sätze

Donnerstagmittag, die nordrhein-westfälische Landesvertretung. Die drei Generalsekretäre kommen zu dem, was sie Statements nennen. Ronald Pofalla, Dirk Niebel und Alexander Dobrindt verlieren ein paar leere Sätze. Keine Nachfragen erwünscht. Der Auftritt ist an sich schon eine Frechheit. Aber dazu kommen die freudlosen Gesichter der drei Politiker. Irgendwas stimmt da nicht. Was hier draußen wohl noch keiner ahnt: Den dreien steckt womöglich noch der Schrecken in den Gliedern.

Am Vormittag ist die Runde der Chefs zum zweiten Mal zusammengekommen. Nach den Glücksmomenten, die sie noch am Montag an selber Stelle zelebrierten, spüren die 27 Teilnehmer jetzt, dass es ernst wird. Später wird einer aus der Unionsführung sogar sagen, dieser Mittag sei der "Wendepunkt" in den Verhandlungen gewesen. Das Geld, vor allem jenes, das fehlt, ist zum alles überragenden Thema geworden. In der Wunschkoalition platzen die ersten Wünsche.

Finanzer und Haushälter

Union und FDP debattieren heftig darüber, was das neue Regierungsbündnis wegen der von 2011 an wirksamen Schuldenbremse in dieser Legislaturperiode einsparen muss. Von 40 Milliarden ist am Anfang die Rede, dann von 34, und am Ende, also am Donnerstagmittag, verständigt sich die große Runde nach langem Rechnen auf mindestens 30 Milliarden Euro Einsparvolumen. Das ist vor allem für die FDP bitter, die eigentlich mehr als 30 Milliarden Euro Steuersenkungen wollte. Und es ist der Einstieg in eine entscheidende Debatte.

Die "Finanzer und Haushälter", wie die Experten für die leere Staatskasse gern genannt werden, hatten bereits am Mittwochabend "goldene Regeln" für die weiteren Verhandlungen beschlossen. Ihr Inhalt lässt sich so zusammenfassen, dass wegen der miserablen Haushaltslage keine Arbeitsgruppe zusätzliche Ausgaben vorschlagen dürfe, ohne in gleicher Höhe Sparvorschläge einzubringen. So entschlossen sind die Haushälter Thomas de Mazière (CDU), Georg Fahrenschon (CSU) und Hermann-Otto Solms (FDP), dass sie dies auch jetzt mit Verve vortragen. Doch sie müssen erleben, dass sie das letzte Wort nicht haben.

Westerwelle und der "Casus Belli"

Für Guido Westerwelle nämlich wird dieser Mittag so etwas wie ein erstes Schockerlebnis. Es ist der Moment, in dem klar wird, dass seine großen Steuersenkungspläne, in den vergangenen Jahren vielfach hinausposaunt in die Welt, nicht in vollem Umfang Wirklichkeit werden dürften. Westerwelle verkleidet das in einen Dreisatz. Er akzeptiere das "Finanztableau" und die 30 Milliarden Euro Einsparvolumen, er halte auch die goldenen Regeln für richtig, aber er erwarte mindestens zwei Ausnahmen: für die geplanten Steuersenkungen und für Investitionen in Bildung und Forschung.

Mehrere Teilnehmer wollen dann gehört haben, wie Westerwelle ruhig und klar vom "Casus Belli" spricht, sollte in diesen Verhandlungen kein Einstieg in eine Steuerstrukturreform beschlossen werden. Mucksmäuschenstill ist es plötzlich. Obwohl Westerwelle weder laut wird noch unwirsch, oder auch gerade deshalb, ahnt plötzlich jeder, dass er es ernst meint. "Man hat gespürt, es geht um seine zentrale Glaubwürdigkeit und damit um alles", berichtet später ein Zeuge.

Auftritt Angela Merkel

Auftritt Angela Merkel. Die Bewegliche. Die Moderatorin. Die CDU-Vorsitzende hält zur Schuldenbremse und zu Westerwelle gleichermaßen. Sie erinnert daran, dass die Schuldenbremse im Grundgesetz stehe und natürlich von 2011 an eingehalten werde. Aber sie spricht zugleich vom "Ausnahmemodus", in dem man sich angesichts der aktuellen Krise bis dahin befinde. Sie legt sich nicht fest. Aber sie öffnet ihrem künftigen Vizekanzler das Türchen zu einer Lösung. Und sie gibt ihm auf höfliche Weise das Signal, er möge den Casus Belli als Vokabel wieder einpacken.

Ob Merkel mal an diesen Moment gedacht hat, in der Nacht zum Freitag, zwischen eins und halb zwei, bevor die letzten Sozialdemokraten gingen?

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