Nach dem EU-Gipfel:Die Forderung nach einer "flexiblen Solidarität" in der EU ist unverschämt

Beata Szydlo, Boyko Borissov, Angela Merkel, Christian Kern

Solidarität unter EU-Staaten soll künftig keine Verpflichtung mehr sein: Polens Ministerpräsidentin Beata Szydlo, Bulgariens Premier Boyko Borissov, Ungarns Premierminister Viktor Orbán, Kanzlerin Merkel und Österreichs Bundeskanzler Christian Kern auf dem EU-Gipfel in Bratislava.

(Foto: AP)

Was vier osteuropäische Länder auf dem Gipfel in Bratislava für den Umgang mit Flüchtlingen vorgeschlagen haben, müsste dann auch für die Zahlungen gelten, die sie aus Brüssel bekommen.

Kommentar von Thorsten Denkler, Berlin

Der EU-Gipfel in Bratislava war gerade vorbei - immerhin mit einem unerwartet konkreten Arbeitsauftrag - da erklärte Viktor Orbán ihn auch schon für gescheitert, weil "es nicht gelungen ist, die Einwanderungspolitik Brüssels zu ändern".

Was er damit meint, sagt Ungarns Ministerpräsident nicht. Wie alle andere Rechtspopulisten will er nicht benennen, was tatsächlich hinter seinen Worten steckt. Er will die EU-Außengrenzen nicht nur besser sichern. Er will sie dichtmachen. Es soll keiner mehr rein, der keine ausdrückliche Erlaubnis hat. So in etwa stellt sich Orbán das wohl vor. Und mit ihm die Staats- und Regierungschefs der anderen drei Visegrád-Staaten, Polen, Tschechien und Slowakei.

Orbán steckt mitten im Wahlkampf. Die Flüchtlinge kommen ihm gerade recht, um seine harte Haltung zu untermauern und sich seinen Bürgern als wahrer Kämpfer für die ungarischen Interessen zu präsentieren. Orbán profitiert von der unterschwelligen Angst vor den Flüchtlingen, die viele Bürger in Europa umtreibt. Diese sogenannten besorgten Bürger bestimmen gerade die politische Stimmungslage in Deutschland und in halb Europa. Und auch den informellen EU-Gipfel im slowakischen Bratislava, der am Freitag zu Ende ging.

Für die EU ist die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen ebenso verbindlich wie die Genfer Flüchtlingskonvention, die zur Hilfe verpflichtet. Für Orbán ist das jedoch kein Grund zurückzuweichen. "In der Union ist weiterhin dieselbe selbstzerstörerische und naive Einwanderungspolitik vorherrschend wie bisher", sagte er. Es sei mehr über die Verteilung der Flüchtlinge gesprochen wurden als über den Schutz der Grenzen.

Orbán alleine wäre schon Problem genug. Aber Politiker wie er haben in der EU gerade Konjunktur. In Polen und Tschechien sowieso, in Frankreich und Österreich, in Deutschland versucht sich die AfD.

Sie alle vertreten die Meinung des Volkes, schallt es einem dann entgegen. Was für ein Unsinn. Weil es "das Volk" nicht gibt. Und weil Leute wie Orbán mit der Wahrheit spielen wie die Katze mit der toten Maus.

Zur Totalüberwachung ist es nicht mehr weit

Wenn Orbán davon spricht, jeden Muslim im Land überwachen zu wollen, dann erklärt er damit Muslime per se zu einem Sicherheitsrisiko. Wenn das zum Prinzip staatlichen Handelns wird, dann ist es zur Totalüberwachung aller Menschen nicht mehr weit. Weil jeder Autofahrer, jeder Fußgänger, jeder Restaurantbesucher ein potentielles Sicherheitsrisiko darstellt. Es sei nur kurz erwähnt, das sich fast alle diesjährigen Attentäter als psychisch labil herausgestellt haben. Wie wäre es also, alle psychisch labilen Menschen zu überwachen? Ach, gleich in Gefängnis mit ihnen. Sie könnten ja zu Mördern werden.

Orbán spricht gezielt eine Bevölkerungsschicht an, die sich um Fakten nicht mehr schert, Menschen, die es sich mit ihren Vorurteilen gut eingerichtet haben haben. Von da aus lässt es sich bequem recht haben. Orbán stellt, exemplarisch für viele andere Rechtspopulisten und -extremisten in Europa, nonchalant rechtsstaatliche Prinzipien und Werte in Frage. Wenn er etwa sagt: "An der bulgarischen Grenze steigt der Druck, und die Verteidigungskosten sind enorm", dann suggeriert er, es gebe einen Krieg an der Grenze. Der Satz stellt die Tatsache auf den Kopf, dass die meisten Menschen dort vor Krieg und Terror auf der Flucht sind.

Es übrigens richtig, das mehr Geld in die Grenzkontrollen gesteckt wird. Aber Grenzen sollten keine Orte sein, an denen Einwanderung verhindert wird. Sondern wo sie gesteuert wird. Gesteuert auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit. Dazu aber gehören Regeln, die in der Praxis funktionieren. Das Jahr 2015 hat gezeigt, dass das Dublin-Verfahren wirkungslos ist, wenn zu viele Menschen kommen. Deutschland hat sich seiner Verantwortung gestellt und viele Flüchtlinge aufgenommen, obwohl sich nach den Dublin-Regeln andere EU-Länder darum hätten kümmern müssen.

Der Gipfel ist die Forderung der Visegrád-Staaten nach einer "flexiblen Solidarität". Solidarität unter den EU-Staaten soll demnach ein freiwilliger Akt eines jeden EU-Staates werden. Keine Verpflichtung mehr. Schon gar nicht wenn es um die Aufnahme und humanitäre Versorgung von Flüchtlingen geht.

Wie weit diese "flexible Solidarität" reichen soll, sagen die Visegrád-Staaten nicht. Aber sie verkennen, dass Solidarität ein Grundpfeiler der Europäischen Union ist. Messbar übrigens auch in Geld. Ungarn zahlt 890 Millionen Euro jedes Jahr an die EU. Und erhält 6,6 Milliarden Euro aus diversen EU-Töpfen zurück. Kaum anders sieht es für die anderen drei Visegrád-Staaten aus. Das ist Geld, das die europäischen Steuerzahler aufbringen. Das ist gelebte Solidarität. Wenn diese Solidarität künftig "flexibel" sein sollen, müssen es die Visegrád-Staaten nur sagen.

Kanzlerin Angela Merkel hat den Vorschlag übrigens begrüßt. Sie will weiteren Ärger in der EU möglichst vermeiden. Und scheint offenbar selbst für faule Kompromisse offen zu sein.

Sie tappt in die gleiche Falle wie viele Politiker hierzulande, die immer nur die "Sorgen und Ängste der Bürger ernst nehmen" wollen. Sorgen und Ängste anhören geht ja in Ordnung. Darüber reden auch. Aber ernstnehmen, dass geht manchmal beim besten Willen nicht. Das sollten Politiker solchen Leuten in Bautzen sagen. Und das sollte Merkel auch Orbán sagen. Hier wären Grenzen dringend nötig.

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