Nach dem Brexit:Merkels Not-Operation für Europa

German Chancellor Merkel speaks during the news conference in Warsaw

Merkel tourt durch Europa. In Warschau stellt sie sich gleich vier ihrer aktuell schärfsten Kritikern - den Regierungschefs der Visegard-Gruppe.

(Foto: REUTERS)

Die EU steckt in ihrer tiefsten Krise. Angela Merkel ist in diesen Tagen unterwegs wie die Spinne im Netz - mit teils brisanten Vorschlägen im Gepäck. Kann sie die Europäer wieder vereinen?

Analyse von Stefan Kornelius

Als die Briten am 23. Juni für den Austritt aus der EU stimmten, war das Heulen und Zähneklappern groß in den Regierungszentralen der EU-Mitglieder.

Nach den üblichen Trauerphasen ist nun aber der Moment der Selbstbesinnung gekommen: "Wir sind doch keine Bananen-Gemeinschaft", sagt etwa ein hoher Beamter. Und ein anderer aus dem höchsten EU-Orbit stellt die rhetorische Frage, ob Europa nichts Besseres zu tun habe, als über seine Verzagtheit zu jammern.

Die Antwort gibt nun nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem Europa-Marathon in der ersten Arbeitswoche nach den Ferien. Überall wird in diesen Wochen gereist, getagt, sondiert und formuliert.

Es treffen sich: die vier Staaten der Visegrád-Gruppe, die Südschiene, die Skandinavier. Merkel selbst, unleugbar unterwegs wie die Spinne im Netz, wird bis zum nächsten informellen Gipfel in Bratislava am 16. September fast alle Regierungschefs getroffen haben.

Wiederholung des Brexit-Szenarios möglich

Das Ziel der Operation E: In Bratislava, beim ersten Arbeitsgipfel ohne die Briten, müssen die Konturen einer neuen EU zu sehen sein. "Woran hat's gelegen? Und was wollen wir ändern?" - diese Fragen stellt Merkel ihren Regierungskollegen.

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Schon die Tatsache, dass weder Botschafter noch Sherpas den Gipfel vorbereiten, zeugt von dessen Bedeutung. Und in Merkels Frage schwingt eine finstere Beobachtung mit: Die Stimmung in Europa lehrt, dass eine Wiederholung des Brexit-Szenarios durchaus möglich ist.

Inzwischen haben sich die Verhandlungsmappen mit Inhalten gefüllt. Wenn die polnische Ministerpräsidentin oder der französische Präsident bedeutungsschwanger von "mehr innerer und äußerer Sicherheit" raunen oder der italienische Premier die Formel von den neuen Wachstumsimpulsen bemüht, dann öffnet sich für die Experten ein Füllhorn von Handlungsoptionen.

Deutsch-französischer Aktionsplan zur Sicherheit

Es ist kein Wunder, dass die EU plötzlich das Thema Sicherheit entdeckt. Terror und Migration schaffen gemeinsame Interessen. Da mag der ungarische Premier Viktor Orbán noch so laut über die deutsche Kanzlerin und ihre Pläne zur Verteilung von Flüchtlingen wettern, beim Thema innere Sicherheit und europäische Armee säuselt er an ihrer Seite.

Die Blaupause für die neue Sicherheitsarchitektur haben in dieser Woche der französische und der deutsche Innenminister gezeichnet. Ihr vierseitiger Aktionsplan, vorgestellt in Paris, ist gespickt mit alten und neuen Initiativen zur Vernetzung der Sicherheitsbehörden, zum Aufbau einer simplen aber effektiven Daten-Infrastruktur, zur Erfassung von Fluggastinformationen, zur Grenzkontrolle und zu den Internet-Gefahren.

Nahezu unbemerkt blieb dabei ein Vorschlag, den nun auch Merkel im Gepäck von Land zu Land trägt: ein gemeinsames europäisches Ein- und Ausreiseregister, und ein Europäisches Reiseinformations- und Genehmigungssystem (Etias). Beide Projekte sollen die Regierungschefs noch in diesem Jahr genehmigen, die Kommission soll so schnell wie möglich die Vorarbeiten leisten.

Hinter Etias verbirgt sich dabei nicht weniger "als ein Systemwechsel", wie es unter den Verhandlern heißt. So wie die USA Daten der Einreisenden erfassen, so will die EU alles über die Menschen wissen, die in die Gemeinschaft hineinwollen. Wer die Auflagen nicht erfüllt, wird abgewiesen. Schon allein die Daten-Infrastruktur für das Projekt nimmt immense Dimensionen an.

Besonders pikant ist Etias mit Blick auf die Visumsfreiheit, die nun der Türkei in Aussicht gestellt wurde. Faktisch baut Etias einen zweiten Schutzwall auf, ein Ersatz-Visumssystem. Was man Ankara auf der einen Seite gibt, kann man auf der anderen wieder nehmen.

Gemeinsames Militär für Europa

Auch beim Kerngeschäft der Sicherheit, beim Militär, will die EU große Schritte tun. Als Erstes soll der Aufbau eines Medical Command, einer gemeinsamen Sanitätstruppe, angestoßen werden. In der medizinischen Versorgungskette haben die Armeen der EU-Staaten Engpässe - hier liegt das größte Hindernis für gemeinsame Einsätze.

Zweitens sehen die Planer jetzt die Zeit für einen echten EU-Kommandostab gekommen. Den haben bisher vor allem die Briten aus Sorge vor zu viel EU-Macht verhindert - aber auf die muss ja nun keine Rücksicht mehr genommen werden.

Schließlich Wachstum und Wirtschaft: Hier tun sich die Deutschen noch besonders schwer, die mediterrane Ausgaben-Gelassenheit zu akzeptieren. Und dennoch sagte Merkel während ihres Flugzeugträger-Auftritts in Italien einen Satz, der von den Märkten bejubelt wurde: "Der Stabilitätspakt enthält genügend Flexibilität, doch das ist nicht ein Thema zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten, sondern für die Kommission." Übersetzung: Italien darf die Defizitkriterien weiter strapazieren. Es gibt nämlich jetzt Wichtigeres: Europa muss stark sein.

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