Nach Tötungen von Zivilisten durch US-Soldat:US-Truppen in Afghanistan in Alarmbereitschaft

Warnung vor Racheaktionen: Nach der absichtlichen Tötung von 16 Zivilisten in der afghanischen Provinz Kandahar befürchten US-Militär und amerikanische Botschaft ein Aufflammen antiwestlicher Proteste und neue Gewalt. Die Taliban drohen, sie würden "jeden einzelnen Märtyrer rächen". Afghanische Politiker bezweifeln, dass ein einzelner US-Soldat das Blutbad angerichtet hat. Auch Augenzeugen berichten Widersprüchliches.

Nach der Tötung von 16 Zivilisten durch einen US-Soldaten in Afghanistan sind die US-Truppen in dem Land in Alarmbereitschaft versetzt worden, wie die britische BBC meldet. Der Angehörige des US-Militärs hatte am Sonntag in zwei Dörfern in der Nähe seines Stützpunkts in Südafghanistan 16 Menschen erschossen, unter ihnen neun Kinder und drei Frauen.

Einwohner der Ortschaften in der Provinz Kandahar sprachen der New York Times (NYT) zufolge von einer beängstigenden Folge von Attacken, bei welcher ein Soldat von Tür zu Tür gegangen sei und schließlich in drei verschiedene Häuser eingedrungen sei. Dort habe er mehrere Menschen gezielt getötet und elf der Leichen verbrannt, darunter auch die von vier Mädchen im Alter von unter sechs Jahren.

Afghanische Politiker äußerten indes Zweifel an der Einzeltäterthese. Abdul Rahum Ajubi, Abgeordneter für die Provinz Kandahar, sagte, es scheine für einen Soldaten unmöglich, die Strecke zwischen den angegriffenen Häusern - rund zwei Kilometer - zurückzulegen und außerdem die Leichen zu verbrennen. Die Berichte, die er von Dorfbewohnern erhalten habe, legten nahe, dass die Schüsse vor Sonnenaufgang aus mehreren Richtungen kamen, sagte auch der Parlamentsabgeordnete Bismullah Afghanmal.

Augenzeugenberichte waren widersprüchlich. Einige Zeugen sagten der NYT, sie hätten mehrere Soldaten gesehen, die in die Angriffe involviert gewesen wären, manche berichteten auch von einem Hubschrauber. Andere afghanische Augenzeugen sprachen hingegen nur von einem bewaffneten Soldaten - und es blieb der NYT zufolge unklar, ob nicht nach der Attacke Truppen in das Dorf gesandt worden seien.

Der Sprecher des afghanischen Verteidigungsministeriums, General Mohammed Sahir Asimi, sagte, die ersten Berichte deuteten auf einen einzelnen Schützen hin. Auch die US-Streitkräfte gehen nach eigenen Angaben bislang ebenfalls von einem Einzeltäter aus.

Weißes Haus bestürzt

Der afghanische Präsident Hamid Karsai sprach von einem Attentat, der "absichtlichen Tötung unschuldiger Zivilisten, für die es keine Vergebung geben kann", und kündigte Ermittlungen an. Von den USA forderte er eine Erklärung. Das afghanische Parlament verurteilte das Massaker. Das afghanische Volk verliere angesichts des "willkürlichen Vorgehens der ausländischen Truppen" die Geduld, erklärte das Abgeordnetenhaus.

Das Weiße Haus reagierte bestürzt auf die Bluttat. US-Präsident Barack Obama sprach in einem Telefongespräch mit Karsai von einer tragischen und erschreckenden Tat. Obama sprach den Angehörigen der Opfer sein Beileid aus und sagte zu, jedweden Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, wie das Weiße Haus mitteilte.

Auch Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zeigte sich bestürzt über das Massaker. "Ich bringe meinen Schock und meine Trauer über dieses tragische Ereignis in der Provinz Kandahar zum Ausdruck", sagte Rasmussen in einer am Sonntag in Brüssel verbreiteten Erklärung. Rasmussen sprach den Angehörigen der Opfer sein Beileid aus. US-Verteidigungsminister Leon Panetta erklärte, er habe Karsai mitgeteilt, dass ein Verdächtiger in Haft sei.

Der festgenommene Unteroffizier sei von seiner Basis im Unruhedistrikt Pandschwai (Panjwai) aus mehr als eine Meile (1,6 Kilometer) weit zum Tatort gelaufen, schrieb die NYT. Der mutmaßliche Einzeltäter habe sich nach der Tötungsserie ergeben. Bei ihm handele es sich um einen 38-jährigen Feldwebel, der verheiratet sei und zwei Kinder habe. Er sei seit vergangenem Dezember in seinem ersten Afghanistan-Einsatz. Zuvor sei er dreimal im Irak stationiert gewesen.

Berüchtigte Heimatkaserne

Bei dem Täter soll es sich um einen Angehörigen des US-Stützpunkts Joint Base Lewis-McChord im US-Staat Washington handeln, wie die Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf US-Vertreter berichtete. Sein Heimatstandort ist vom US-Soldatenmagazin Stars and Stripes als die US-Kaserne mit den meisten Problemen bezeichnet worden.

Die Joint Base Lewis-McChord ist mit etwa 100.000 Soldaten einer der größten Militärstützpunkte der USA. Vier von dort aus nach Afghanistan entsandte Soldaten wurden wegen Mordes verurteilt, weil sie 2010 drei Afghanen erschossen und ihnen Finger abgeschnitten sowie Zähne als Trophäen ausgeschlagen hatten.

Ein ehemaliger Soldat aus Lewis-McChord schoss 2010 einen Polizisten im US-Staat Utah an und am 1. Januar tötete ein 24 Jahre alter Veteran des Irakkriegs einen Parkwächter im Mount-Rainier-Nationalpark, bevor er selbst auf der Flucht in der Kälte umkam.

Außerdem nahmen sich eine Reihe von aus dem Krieg nach Lewis-McChord zurückgekehrter Soldaten das Leben. In mehr als 300 Fällen wurde Informationen der Zeitung Seattle Times zufolge in den vergangenen fünf Jahren im Standortkrankenhaus die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung zurückgenommen.

Drohungen der Taliban

Wie ein Gewährsmann der Nachrichtenagentur AP mitteilte, war der mutmaßliche Täter als regulärer Soldat auf dem Stützpunkt zur Unterstützung von US-Spezialeinheiten stationiert, die zur Stabilisierung der Sicherheitslage in den umliegenden Dörfern Bürgerwehren aufbauen. Demnach handelte der Soldat auf eigene Faust, als er seinen Stützpunkt verließ und in zwei Dörfern das Feuer auf Zivilpersonen eröffnete.

Die Bluttat belastet das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Kabul und Washington. Nach Einschätzung der afghanischen Regierung könnte der Vorfall negative Auswirkungen auf das geplante Abkommen über eine strategische Partnerschaft beider Ländern haben. Die Unterzeichnung des Abkommens könnte sich verzögern, sagte ein Regierungsvertreter der Nachrichtenagentur Reuters am Montag. Über das Abkommen wird seit mehr als einem Jahr verhandelt. Es soll die Rahmenbedingungen für eine weitere Präsenz der USA in Afghanistan auch nach dem geplanten Abzug der Kampftruppen 2014 schaffen.

Erst vor drei Wochen waren Unruhen ausgebrochen, nachdem US-Soldaten auf einem Militärstützpunkt Koran-Exemplare verbrannt hatten. Die Proteste danach kosteten mehr als 30 Afghanen und sechs US-Soldaten das Leben. Die US-Botschaft in Kabul sprach eine Warnung an alle US-Bürger in Afghanistan aus.

Die radikalislamischen Taliban drohten mit Vergeltung. Sie würden sich für "jeden einzelnen Märtyrer bei den Eindringlingen und grausamen Mördern rächen", schrieben die Aufständischen auf ihrer Internetseite.

Mitten in die neuerlichen Spannungen fällt der unangekündigte Afghanistan-Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Die Kanzlerin traf am Montagmorgen im deutschen Feldlager im nordafghanischen Masar-i-Scharif ein, um sich bei den Bundeswehrsoldaten über ihren Einsatz zu informieren.

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