Myanmar:"Nicht mit moralischen Keulen arbeiten"

An exhausted Rohingya refugee woman touches the shore after crossing the Bangladesh-Myanmar border by boat through the Bay of Bengal, in Shah Porir Dwip

Wer lebend die Grenze zwischen Myanmar und Bangladesch überquert, den erwartet ein Leben im Elend der Flüchtlingslager.

(Foto: Danish Siddiqui/Reuters)

Die UN bezeichnen die Massenflucht der Rohingya als "ethnische Säuberungen" und "brutale Militäroperation". Der Birma-Experte Hans-Bernd Zöllner hat Zweifel. Ein Gespräch über die Schwierigkeit, herauszufinden, wer in Myanmar die Wahrheit sagt.

Interview von Julia Ley

Hans-Bernd Zöllner, 75, ist als Lehrbeauftragter an verschiedenen deutschen Universitäten mit den Schwerpunkten Myanmar und Theravada-Buddhismus tätig. Er reist seit Jahren regelmäßig in das Land und hat unter anderem über die Rolle von Fake News in innermyanmarischen Auseinandersetzungen, den Konflikt zwischen Aung San Suu Kyi und dem Militär sowie die Situation von Muslimen im Land geforscht. 2015 erschien seine zusammen mit Rodion Ebbighausen geschriebene politische Biografie Aung San Suu Kyis unter dem Titel "Die Tochter".

SZ: Herr Zöllner, bis vor wenigen Wochen kannte kaum jemand im Westen die Rohingya. Durch den Konflikt und die Massenvertreibung blickt die Welt nun auf sie. Was ist das eigentlich für eine Volksgruppe?

Hans Bernd Zöllner: Tja, das ist die Königsfrage. Denn eben um diese Frage dreht sich der Konflikt. Und sie wird von unterschiedlichen Seiten unterschiedlich beantwortet. Aber es gibt keinen, der von sich behaupten könnte, dass er sie wirklich beantworten kann, auch ich nicht - weil die Herkunft der Rohingyas im Dunkel der Geschichte Myanmars untergeht. Ich kann Ihnen aber ein paar Anhaltspunkte geben.

Bitte sehr.

Es gibt ein paar Fakten, die von fast allen - zumindest westlichen - Beobachtern akzeptiert werden. Die Rohingya sind sunnitische Muslime, genauso wie die im benachbarten Bangladesch. Der Name Rohingya taucht gegen Ende des 18. Jahrhunderts das erste Mal auf. Danach bis Anfang der 1950er Jahre nicht mehr. Und das, obwohl die britischen Kolonialherren, die das Land nach 1824 eroberten, sorgfältig jeden Baum und jede Ethnie klassifiziert haben. In den britischen Volkszählungen werden für die im Land lebenden Muslime verschiedene Namen benutzt: Bengalische, chittagongische oder arakanesische Muslime. Dass die Rohingya eine Volksgruppe sind, die dort seit Jahrhunderten lebt, lässt sich nicht beweisen. Und genau darum dreht sich der Streit.

Der Name ist ein Kampfbegriff. Die myanmarische Regierung weigert sich, von "Rohingya" zu sprechen und sieht die dort lebenden Muslime als Einwanderer aus Bangladesch, also als illegale Migranten. Wie lange gibt es Muslime im heutigen Myanmar und woher kamen sie?

Es ist sicher, dass dort schon seit langem Muslime leben, die aus Bengalen kamen. Unklar ist, wie viele wann in die Landstriche eingewandert sind, die heute zu Myanmar zählen. Man muss sich das so vorstellen: Bis 1826 gab es in der Region keine Grenzen. Das, was wir jetzt gerade sehen, ist - politisch mal unkorrekt gesagt - eine Wanderungsbewegung von Myanmar nach Bangladesch, die in der vorkolonialen Zeit die Regel war. Man ist je nach Erntelage hin und her gewandert. Dramatische Folgen hatte das erst mit der Kolonialzeit, als es plötzlich feste Grenzen gab. Damit entstand das Problem: Du bist entweder ein Bewohner Bangladeschs oder Birmas.

In den vergangenen Wochen haben mehr als 400 000 Menschen das Land verlassen. Ist der Begriff "Wanderungsbewegung" da nicht eine grobe Verharmlosung?

Ich spreche von "Wanderungsbewegungen" beziehungsweise "Migrationen" im Sinne eines neutralen Begriffs, um die notwendige Analyse dieses Konfliktes nicht von vorneherein mit einer Bewertung zu vermischen. Das passiert in den öffentlichen Diskursen häufig, wenn von "Vertreibungen", "ethnischen Säuberungen" und "Fluchtbewegungen" gesprochen wird. Migrationen werden durch Push- und/oder Pull-Faktoren ausgelöst. In diesem Sinne ist das, was heute an der Grenze zwischen Myanmar und Bangladesch wieder einmal passiert, eine Wanderungsbewegung.

Aber wieso sollten Hunderttausende binnen weniger Wochen ihr Land verlassen, wenn es keine Verfolgung gibt? Was ist mit den übereinstimmenden Berichten der Flüchtlinge, den Bildern von brennenden Dörfern, den Fotos und Videos von Verwundeten?

Sie vermischen Analyse und Bewertung. Meine Hypothese zu der momentanen Fluchtbewegung ist: Es gibt die kollektive Erinnerung an Gräueltaten, die von Buddhisten verübt wurden, das schafft Angst. Die muslimische Bevölkerung ist nicht sicher, weil sie staatenlos ist. Muslimische Rebellen attackieren buddhistische Sicherheitskräfte, das Militär schlägt zurück. Die Bevölkerung fürchtet, dass sich die im kollektiven Bewusstsein gespeicherten Gräueltaten - die keiner der Flüchtlinge selbst erlebt hat - wiederholen werden. Das führt dazu, dass man von einer Unsicherheit in eine weniger bedrohlich erscheinende andere flieht.

Das heißt, der Hohe Kommissar für Menschenrechte der UN übertreibt, wenn er von "einem Paradebeispiel ethnischer Säuberungen" spricht?

Mit dem Wort "ethnische Säuberung" bringt er eine moralische Kategorie ins Spiel. Wer hat wen vertrieben? Der Anlass, nicht die Ursache, für den jetzigen Exodus waren die Überfälle der militanten Rohingya-Rebellen. Eine andere Frage ist, wie es zu bewerten ist, dass sich jetzt wahrscheinlich viele Buddhisten die Hände reiben und sagen: "Prima, dass sie weg sind!" Viele Journalisten scheinen hier die Rolle des Staatsanwaltes einzunehmen, der eine Anklage formuliert. Es handelt sich um eine menschliche Tragödie, die wir nur verschlimmern, wenn wir mit vorschnellen Schuldzuweisungen arbeiten, nur weil uns die Komplexität der Fragestellung überfordert. Was jetzt in erster Linie nötig ist, ist humanitäre Hilfe.

"Die Burmesen behandeln uns wie Hitler die Juden", sagt ein Professor

Welche Rolle spielt antimuslimischer Rassismus in der buddhistischen Bevölkerung?

Den gibt es, leider. Bei einigen von dem, was buddhistische Freunde sagen, schlackern mir die Ohren. Ein muslimischer Bekannter von mir, ein Professor in Mandalay, sagte mal: "Die Burmesen behandeln uns wie Hitler die Juden." Der Vorwurf des Rassismus ist berechtigt, aber es macht keinen Sinn, darauf mit weiteren Vorwürfen zu reagieren. Man müsste nach pragmatischen Lösungen suchen und nicht nur mit moralischen Keulen arbeiten. Gerade wir Deutschen sollten da vorsichtig sein.

Wie könnte eine solche Lösung aussehen?

Meine Lösung wäre - aber das ist eine typische Besserwisser-Lösung-, bis zur Klärung einer Reihe von Fragen eine Art international gesicherte Schutzzone zu errichten, zu der die Townships gehören, in denen die Menschen leben. In diese Zone dürften auch Flüchtlinge gehen, die innerhalb Myanmars vertrieben wurden und eine Reihe von Menschen, die in den Flüchtlingslagern in Bangladesch sitzen.

Die Beraterkommission unter dem früheren UN-Generalsekretär Kofi Annan fordert, dass die Regierung eine Lösung für die Staatenlosen findet und dauerhaft in Myanmar lebende Muslime einbürgert.

Was die internationale Gemeinschaft von Myanmar erwartet, ist, dass es auf einen Schlag einer Million Menschen die Staatszugehörigkeit zuerkennt. Und da sagen nicht nur Aung San Suu Kyi, sondern auch ihre Wähler: "Das geht nicht." Das ist ein demokratisches Dilemma. Aung San Suu Kyi folgt der Meinung derer, die sie mit überwältigender Mehrheit gewählt haben.

Aber viele der Menschen sind seit Generationen im Land. Die meisten der Flüchtenden wurden dort geboren. Da ist Staatenlosigkeit doch kein Zustand.

Das burmesische Staatsbürgerschaftsrecht hat nach der Unabhängigkeit jene Gruppen als einheimisch definiert, von denen man vermuten konnte, dass ihre Vorfahren nicht erst in der Kolonialzeit ins Land gekommen waren. Das ist ein aus meiner Sicht relativ normaler Vorgang. Jeder Staat definiert, wer dazugehört und wer nicht. Und: Menschen, die nachweisen können, das sie seit zwei Generation im Land sind, können sich als Staatsbürger registrieren lassen, auch wenn die Rohingya als Gruppe nicht als eine der "einheimischen Ethnien" anerkannt werden.

Was allerdings nicht immer leicht ist, da viele die nötigen Dokumente nicht haben. Die diskriminierende Behandlung der Rohingya ist verheerend: Viele von ihnen dürfen sich im Land nicht frei bewegen, lange durften sie nicht ohne Erlaubnis heiraten oder mehr als zwei Kinder bekommen.

All das ist eine Folge davon, dass sie staatenlos sind. Das Grundproblem ist diese ungeklärte Frage.

Myanmar: Hans-Bernd Zöllner

Hans-Bernd Zöllner

(Foto: privat)

Momentan gibt es Berichte von Vergewaltigungen, Morden, ganze Dörfer sollen niedergebrannt worden sein. Auch für Staatenlose gelten die Menschenrechte.

Aung San Suu Kyi hat in ihrer Rede versprochen, dass diese Vorwürfe untersucht werden. Und dass die Verantwortlichen bestraft werden - wenn es sich herausstellen sollte, dass sie stimmen.

Das klingt nicht so, als ob Sie die Vorwürfe für glaubwürdig halten?

Ich bin mir ziemlich sicher, dass in den Konflikten in Myanmar mit Fake News gearbeitet wird. Der jetzige Konflikt wurde ausgelöst durch Angriffe militanter Rohingya-Aktivisten. Und zwar genau an dem Tag, an dem eine Beraterkommission geführt von Kofi Annan ihre Empfehlungen für den Konflikt vorgestellt hat, darunter viele Anregungen, wie die Regierung die Situation der Muslime verbessern könnte.

Sie meinen die Beraterkommission, die 2016 auf Wunsch Aung San Su Kyis eingesetzt wurde. In der Tat dankt Kofi Annan in dem Report sogar der myanmarischen Regierung für die gute Zusammenarbeit. Aber die Angriffe der Militanten leugnet ja auch keiner, kritisiert wird die harte Reaktion des Militärs darauf.

Die Angriffe werden nicht ausreichend kritisiert. Kritisiert wird die Regierung, dabei lässt man aber völlig außer Acht, was sie schon versucht hat, um das Problem zu lösen. Das zeigt die Voreingenommenheit der internationalen Gemeinschaft und der UN an dieser Stelle. Ich fühle mich unwohl, hier den Verteidiger der burmesischen Regierung zu geben. Aber ich sage immer im Spaß: "Ich glaube nur die Nachrichten aus Myanmar, die ich selbst gefälscht habe!"

António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat die Angriffe der Militanten zumindest verurteilt. Aber Sie sprachen gerade von Fake News. Was genau meinen Sie damit?

Ich habe mich länger mit den Fluchtbewegungen der 1970er und 1990er Jahren befasst. Es gibt starke Anhaltspunkte dafür, dass diese Auswanderungen Folge von Massenhysterien gewesen sind, entstanden durch Gerüchte. Auch die sogenannte Safran-Revolution vor zehn Jahren wurde wahrscheinlich durch die Fake News vom Tod eines Mönches ausgelöst. Aber das kommt in keinem der Berichte darüber vor. Die internationale Gemeinschaft hat sich mit diesem Konflikt jahrzehntelang nicht befasst. Das rächt sich heute, deshalb kennt keiner die Vorgeschichte.

Viele Flüchtlingshelfer und Journalisten sind in den angrenzenden Regionen, zum Beispiel in Bangladesch. Sie berichten, dass sich die Geschichten der Flüchtenden weitgehend decken.

Die Flüchtlinge berichten heute dasselbe, was ihre Vorgänger vor Jahrzehnten erzählt haben. Das ist ein Muster. Die Menschen erzählen die Geschichte, von der sie meinen, dass sie ihnen und ihren Leuten am besten hilft. Ich plädiere für den Zweifel. Wir wissen es nicht. Wir waren nicht da. Virtuelle Nachrichten sind eine der Waffen, mit denen heute Politik gemacht wird.

Aber es geht ja nicht primär um virtuelle Nachrichten. Sondern darum, dass Hunderttausende unter gefährlichsten Bedingungen ihr Land verlassen.

Ich rede nur von den Vorwürfen gegen das Militär: Mord, Vertreibung, Vergewaltigung. Dass die Situation der Rohingya in Myanmar schwierig ist, ist ohne Zweifel richtig. Und: Die Betroffenen haben keine Stimme, das ist Teil ihrer Tragödie. Es gibt keine Führer, die für diese Leute sprechen. Nur die, die ich die "Advokaten" nenne.

Sie meinen die Militanten?

Das sind die Advokaten mit Gewehr. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Rohingya-Aktivisten, die ein Interesse daran haben, Gräuelnachrichten zu verbreiten. Wie gesagt, in früheren Jahren kann man das ansatzweise nachweisen. Diplomaten berichteten aus Flüchtlingslagern: Da gebe es ganze Gangs, die diese Nachrichten machen. Die Arbeit, die ich dazu geschrieben habe, war das Schwierigste, das ich je recherchiert habe. Weil im Einzelfall gar nicht nachzuvollziehen ist, wer die Wahrheit sagt, wer lügt, warum und aus welchen Gründen.

Was versprechen sich die Aktivisten davon?

Ich kenne Advokaten, die mit diesem Kampf ihr Leben bestreiten. Nicht in erster Linie finanziell, sondern vor allem moralisch. Es gibt darunter Menschen, die das burmesische Militär abgrundtief hassen. Dafür gibt es teilweise gute Gründe. Aber diese Menschen nutzen alles, was ihnen in die Hände fällt, um das Militär schlecht zu machen. Ein Aktivist hat die These aufgestellt, dass es seit 1970 einen Plan für einen "slowburning genocide" gebe, eine langsame, gewollte Auslöschung der Rohingya. Er ist ziemlich blindwütig in seinem Versuch, das jetzt international salonfähig zu machen.

Eine These, die auch von einigen Journalisten geteilt wird. Dem Ziel, dass die Rohingya als Minderheit anerkannt werden, dürfte sie allerdings kaum helfen.

Wer weiß, was Aktivisten wie ihn treibt. Nationalismus? Hass auf die Birmanen? Wir im Westen wollen immer alles rational erklären. In dieser Region herrscht eine andere Art von Rationalität, die wir versuchen sollten zu begreifen, bevor wir urteilen. Ich vergleiche die Region gerne mit einer Erdbebenzone zwischen zwei kulturellen Kontinenten, der buddhistischen Welt und der muslimischen. Und dort gibt es seit 200 Jahren in regelmäßigen Abständen Eruptionen.

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