Muslimbrüder gegen Opposition:Gewalt im Namen der ägyptischen Revolution

Ägypten Mursi Kairo

Demonstranten vor dem Präsidentenpalast in Kairo.

(Foto: REUTERS)

Kein Ausweg, nirgends: Muslimbrüder und die Opposition stehen sich unversöhnlich gegenüber. Auf den Straßen Ägyptens herrscht Gewalt. Wie sollen sich zwei Gruppen einigen, die beide glauben, im Namen der Revolution und der Demokratie aufzutreten? Eine Eskalation ist kaum zu verhindern.

Von Sonja Zekri, Kairo

Was mit der Muslimbruderschaft geschieht, stellt man sich vielleicht am besten als Gletscher im Klimawandel vor. In historisch atemraubender Schnelligkeit schmilzt die Unterstützung für die Politik der 84 Jahre alten Islamistenorganisation dahin: Mohammed Mursi, der Präsident der Bruderschaft, hat das Land in Aufruhr versetzt mit seinem Griff nach pharaonischer Macht und der drohenden Abstimmung über eine vage formulierte Verfassung mit weit offenen Einfallstoren für frömmelnde Rechtsamateure. Berater verlassen ihn, Minister distanzieren sich. Der Chef der Wahlkommission, die am 15. Dezember das umstrittene Referendum über die Verfassung organisieren soll, ist zurückgetreten, sogar der Direktor des Staatsfernsehens.

Und nun fordert auch noch die Ashar, der höchste Sitz sunnitischer Gelehrsamkeit, Mursi solle seine - temporäre, wie er behauptet - Machterweiterung aussetzen. Mursi hat Menschen auf Demonstrationen getrieben, die ihn noch vor fünf Monaten in der Hoffnung auf Stabilität und Aufschwung gewählt haben. Die Anhängerschaft für ihn und die Muslimbrüder schmilzt tatsächlich wie Gletschereis. Darunter kommt der nackte Stein zum Vorschein: der Fels der Getreuen der Muslimbrüder.

Ineffektive Diskussionen und Eitelkeit

"Schafe" nennen die Protestierenden die Brüder, sie verachten sie für ihren Kadavergehorsam, aber darin schwingt auch Neid mit, denn eine so gewaltige Maschinerie, so präzise steuerbar, so auf den Punkt mobilisierbar, hatten die Gegner von Präsident Mursi nie.

Die Muslimbrüder verachten die Liberalen für ihre ineffektiven Diskussionen, für ihre Eitelkeiten, für ihre Heterogenität. Tharwat el-Kharbawy, ein Ex-Muslimbruder, hat jüngst in einem Interview mit der Zeitung Daily News Egypt über Spannungen innerhalb der Muslimbrüder geplaudert: Eine Gruppe sehe die Zugehörigkeit zur Organisation als Pflicht an, halte ein richtiges, gottgefälliges Leben außerhalb der Organisation für schlicht unmöglich.

Diese Ansicht teilten alle heutigen Anführer. Die andere Gruppe betrachte die Organisation nicht als "Ziel an sich, sondern als Mittel, um etwas zu erreichen", eine Ansicht, der beispielsweise Abdel Menaim Abul-Futuh anhänge, Ex-Muslimbruder und gescheiterter Präsidentschaftskandidat. Für die Elite der Bruderschaft stellt sich nicht mehr die Frage, ob die Ideologie eines islamischeren Staates das Wichtigste ist oder doch der Apparat: Die Ideologie ist der Apparat.

Jede Seite baut sich ihre Wirklichkeit

Niemand weiß, wie die wahren Machtverhältnisse im Lande sind, denn Umfragen sind in Ägypten chronisch unzuverlässig oder schlicht gekauft. Beide Seiten aber neigen dazu, die Momentaufnahme des letzten Wahlergebnisses als Beleg für die Schwäche des Gegners zu nehmen. 13 Millionen Ägypter haben für Mursi gestimmt, 13 von 50 Millionen Wahlberechtigten und 80 Millionen Ägyptern: Das sei gerade ein Bruchteil der Gesellschaft, heißt es, und ganz sicher nicht der Blankoscheck für eine jeder Konsensbildung enthobene langfristige Verwandlung des Landes nach dem Willen des "Mursched" Mohammed Badie, des Obersten Führers der Muslimbrüder. Der "Mursched", der in Mursis milde Rhetorik regelmäßig mit wüsten Verdächtigungen hineingrätscht, wollte am Donnerstag in der Nähe des Präsidentenpalasts einen Beerdigungszug anführen - als wäre die Stimmung nicht schon erhitzt genug.

Die Muslimbrüder verweisen darauf, dass sie gemeinsam mit den steinzeitislamistischen Salafisten in Ägyptens erstem frei gewählten Parlament 70 Prozent bekommen haben, dass sie den Nicht-Islamisten in der Verfassungskommission großzügigerweise breitesten Raum - wenn auch nicht die Mehrheit - eingeräumt haben, dass sie die Salafisten davon abgehalten haben, noch stärkere Scharia-Bezüge in die Verfassung zu schreiben. Den Liberalen, so ihre Lesart, gehe es nicht um Konsens, sondern nur um die Schwächung der Islamisten, schließlich hatten selbst vermeintliche Demokraten still zugesehen, wie die angeblich freie Justiz das islamistisch dominierte Parlament auflöste.

Wären die Muslimbrüder nur nicht so gierig gewesen

Dies aber erinnert die Islamisten an den geraubten Wahlsieg 1991 in Algerien, ein Trauma des politischen Islam. Verfolgungswahn sei das Rückgrat der Autokratie, hat Khaled Elgindy von der Brookings Institution festgestellt, aber andere Beobachter wenden ein, dass die Paranoia der Islamisten auf Erfahrung beruht: Nicht nur Nasser, auch Sadat, auch Mubarak gaukelten den Muslimbrüdern Kooperation und Nachsicht vor - um sie dann doch verhaften und verfolgen zu lassen.

Wären die Muslimbrüder nur nicht so gierig gewesen, argumentieren ihre Gegner. Auch jetzt sehe man ja, dass Mursi eben doch nicht "Präsident aller Ägypter" sei, wie er versprochen hatte, sondern, wie es eine Frau auf einem der jüngsten Protestzüge formuliert hat, "der Präsident der Muslimbrüder". Es ist vor allem dieses Verständnis von Politik, das den Ägyptern Sorge bereitet. Wie sollen sich zwei Gruppen einigen, wie soll die Eskalation, vielleicht ein Eingreifen des Militärs vermieden werden, wenn die Rhetorik so hochtourig ist, wenn beide, Gegner und Anhänger des Präsidenten, im Namen der Revolution, der Demokratie, vor allem aber: Ägyptens auftreten?

Beide Seiten erheben den totalen Anspruch

Zwei gegensätzliche, anscheinend nicht zu vereinbarende Visionen über das eigene Land, über die eigene Identität sind in offene Konkurrenz miteinander getreten, nachdem die Revolution den Deckel der bleiernen Mubarak-Jahre fortgerissen hat. Und beide erheben einen totalen Anspruch. Liberale, Säkulare, Christen und Frauen beanspruchen Schutz für oft gebildetere, wohlhabendere, westlich orientierte Minderheiten. Ägyptens Kultur, sagen sie, ist 7000 Jahre alt und enthält Einflüsse von den Pharaonen bis zu den Franzosen. Aber wie sie Millionen Ägypter aus bildungsfernen Schichten an ein pluralistisches Kulturangebot heranführen wollen, von dem diese sich aus Geldmangel sowieso ausgeschlossen fühlen, darüber haben sie meist nur theoretische Vorstellungen. Und würden die Muslimbrüder in der nächsten Runde politischer Aufwallung entmachtet und eingesperrt - nicht alle würden ihnen eine Träne nachweinen. Die Muslimbrüder wiederum sprechen ihren Gegnern jede Verankerung im eigenen Land ab: Säkularismus, westlicher Einfluss seien unägyptisch, die dürftigen Wahlergebnisse der säkularen Parteien mithin kein Wunder. Mit der Islamisierung finde Ägypten zu sich selbst.

Ägypten brauche eine Politik, die alle gesellschaftlichen Gruppen einbeziehe, hat Bundesaußenminister Guido Westerwelle gefordert. Die Idee von einem Ägypten, das allen Ägyptern gehört, scheint bestenfalls am Ende des Übergangsprozesses zu liegen - nicht aber an seinem Beginn.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: