Muslimbrüder:Erdoğans extreme Freunde

File photo of Palestinian members of the al-Qassam brigades standing guard as they wait for the arrival of Hamas chief Meshaal in the southern Gaza Strip

Die palästinensische Hamas, die laut Innenministerium und BND auch in Ankara wohlgelitten ist, entstand einst als Ableger der Muslimbrüder.

(Foto: REUTERS)
  • Der türkische Staatspräsident Erdoğan und seine AKP fühlen sich den Muslimbrüdern politisch-ideologisch verbunden.
  • Allerdings gibt es auch deutliche ideologische Unterschiede.
  • Die Türkei beherbergt islamistische Kräfte aus Ägypten und Palästina, hat aber auch ihre eigene radikale Szene.

Von Moritz Baumstieger und Christiane Schlötzer

Als Recep Tayyip Erdoğan am 16. Juli, am Morgen nach dem gescheiterten Putsch, in Istanbul vor seine jubelnden Anhänger trat, hob er den rechten Arm über den Kopf und reckte vier Finger in die Höhe. Die Geste war kein verunglücktes Victory-Zeichen, sie war eine eindeutige politische Botschaft: Die Armee hat es nicht geschafft, den türkischen Präsidenten zu besiegen, einen Präsidenten, der seine Wurzeln im politischen Islam hat.

Die vier gereckten Finger, mit eingezogenem Daumen, sind das Erkennungszeichen der ägyptischen Muslimbrüder, seit die Armee in Ägypten 2013 mit großer Brutalität ein Protest-Camp der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi räumte. Dabei starben in Kairo mehr als 600 Menschen auf dem Rabaa-Platz, dessen Name ähnlich wie das arabische Wort für die Zahl Vier klingt - daher die vier Finger. Erdoğan war einer der ersten Politiker, der die Geste aufgriff - nur drei Tage nach dem Gemetzel. Und danach immer wieder.

Der sunnitische Islam wird eindeutig bevorzugt

Denn Erdoğan und seine AKP fühlen sich den Muslimbrüdern politisch-ideologisch verbunden. Allerdings gibt es auch deutliche Unterschiede. Die Türkei hat nun eine fast 100-jährige Republikgeschichte. Der Verfassungsartikel, der sie zum "Laizismus", zur Trennung von Staat und "religiösen Gefühlen" verpflichtet, ist nicht veränderbar. Das hat Staatsgründer Kemal Atatürk so festgelegt. Das Programm der 1928 von dem ägyptischen Volksschullehrer Hassan al-Banna gegründeten Muslimbrüder strebt dagegen eine Staatsführung an in Übereinstimmung mit der Scharia, dem islamischen Recht.

Als der türkische Parlamentspräsident Ismail Kahraman im April meinte, die Türkei brauche als "muslimisches Land" auch eine "religiöse Verfassung", wurde er von Erdoğan rasch zurechtgewiesen. "Meine Position dazu ist bekannt (...) der Staat sollte zu allen Religionen dieselbe Distanz wahren (...) das ist Laizismus." In Wirklichkeit kennt der türkische Staat solche Äquidistanz nicht. Der sunnitische Islam, dem sich die meisten Türken zurechnen, wird eindeutig bevorzugt, über eine Religionsbehörde gefördert und kontrolliert zugleich.

Viele Muslimbrüder aus Ägypten flüchteten vor der Militärregierung in die Türkei

Ideologisch-religiöse Nähe ist das Eine, praktische Politik etwas anderes. Erdoğan hatte einst gehofft, sein Land könnte nach den arabischen Revolutionen zum Patenstaat für aufstrebende muslimische Demokratien werden. Es kam anders. In Ägypten regiert ein Ex-General - und die Türkei beherbergt Dutzende exilierte Führer der Muslimbrüder, die in Kairo als "Terroristen" gelten. Sie können von türkischem Boden aus Propaganda für einen neuen Umsturz betreiben. Ist die Türkei damit, wie es in der Einschätzung des Bundesinnenministeriums heißt, eine "zentrale Aktionsplattform" für islamistische Gruppierungen im Nahen und Mittleren Osten?

Die ägyptischen Muslimbrüder streben nicht nach der islamistischen Weltherrschaft, sie sind an Kairo interessiert. Die palästinensische Hamas, die laut Innenministerium und BND auch in Ankara wohlgelitten ist, entstand einst als Ableger der Muslimbrüder, auch ihr Ziel ist nicht der globale Dschihad. Die Hamas gilt in Israel und der Europäischen Union allerdings als Terrororganisation, sie richtet ihre Waffen auch gegen die säkulare palästinensische Konkurrenz.

Die Türkei hat ihre eigene radikale Szene

Zwischen den verfeindeten Palästinenser-Lagern wollte die Türkei 2012 noch vermitteln, dafür wurde sie teils auch vom Westen gelobt. Erst kurz vor dem Putschversuch hatte Erdoğan überraschend die Aussöhnung der Türkei mit Israel verkündet - nach sechs Jahren Eiszeit. Ein türkischer Diplomat, der namenlos bleiben wollte, sagte dazu dem Politik-Blog Al Monitor: Die Türkei kommuniziere eben auch "für die Hamas" mit Israel.

Der Mann versuchte so Ankaras abrupte Hinwendung zu einem "Erzfeind" irgendwie zu erklären. Denn Erdoğan hatte zuvor mit Anti-Israel-Rhetorik beim eigenen Wahlvolk Punkte gesammelt. Der heute im Exil in Katar lebende Hamas-Führer Khalid Meshal war gern gesehener Gast in Ankara. Ausgelöst hatte den Bruch mit Israel eine radikale islamistische türkische Hilfsorganisation, die IHH. Sie hatte 2010 versucht, mit ihrem Schiff Mavi Marmara gewaltsam und medienwirksam die Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Israels Militär stoppte die Aktion, es gab neun Tote. Auf die Aussöhnung mit Israel reagierten islamistische Gruppierungen in der Türkei mit Wutattacken auf Erdoğan. Die IHH erklärte, man wolle mit der Vereinbarung "nichts zu tun haben".

Landeseigene radikale Kräfte profitieren vom Syrien-Konflikt

Die Türkei beherbergt islamistische Kräfte aus Ägypten und Palästina, aber sie hat auch ihre eigene radikale Szene. "Ein salafistischer Extremismus" sei in den vergangenen fünf Jahren in der Türkei heimisch geworden, beklagte jüngst Yusuf Müftüoğlu, ein ehemaliger Berater von Ex-Präsident Abdullah Gül, der als moderater Mann gilt. Genährt wird dieser Radikalismus vom Syrien-Konflikt. In der Türkei haben Vertreter aller syrischen Oppositionsgruppen Zuflucht gefunden, sie betreiben syrische Radiosender und besorgen den Nachschub - auch an Kriegsgerät.

Erdoğan wurde nachgesagt, auch die Dschihadisten in Syrien tatkräftig zu unterstützen, sogar den IS. Seit aber mutmaßliche IS-Terroristen auch in der Türkei bomben, wird immer wieder nach Terrorzellen gesucht. In Al Monitor schrieb kurz vor dem Putschversuch der Autor Mustafa Akyol, die Bedrohung, die der Türkei durch die Radikalen im Land drohe, habe man in Ankara so lange nicht verstanden, solange türkische Politiker glaubten, der IS sei "nur eine Verschwörung des Westens", gegründet, um dem Islam zu schaden.

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