Münchner Neueste Nachrichten vom 10. Juli 1914:Sex-Skandal mit Adelskomponente

München, zwischen 1900 und 1910

Blick über die königlich-bayerische Hauptstadt München in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Vor 100 Jahren rätseln die Münchner, welche ungenannte "Hoheit" sich mit einem Jung-Aristokraten um eine heimische Prostituierte zankt. Die SZ-Vorgängerzeitung schreibt auch von russischer Spionage in Berlin - und von Foltervorwürfen gegen österreichische Ermittler.

Von Oliver Das Gupta

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Die Meldung ist ausführlich, doch nur ein Name wird genannt: Kreszenz Kronschnabel wird vom Schöffengericht der königlich bayerischen Landeshauptstadt zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt, schreiben die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass sich die Portiersfrau der Kuppelei schuldig gemacht habe.

Ort des Deliktes: Die von Kronschnabel geführte Pension "Kaiserhof" in der Gabelsbergerstraße. Die Namen der Verkuppelten bleiben ungenannt, dabei wären sie interessant: Demnach habe eine 24-jährige "Bardame" in der Pension "hochgestellte Persönlichkeiten" empfangen, die "hin und wieder auch kräftig gezecht" hätten.

Alter Freier verpflichtet jungen Freier zur Hochzeit

Besonders häufig gesehene Gäste bei der Prostituierten: Ein "Rollschuhkünstler" sowie zwei ausländische Blaublüter, bei denen der Datenschutz besonders ernst genommen wird. Die Namen der "70-jährigen ausländischen Hoheit" sowie eines "25-jährigen österreichischen Hocharistokraten" seien streng geheim. Doch ein hübsches Detail schaffte es trotzdem in die Zeitung: Beide den jungen Damen verfallene Adelige hätten sich einmal vor der Pension ein "heftiges Renkontre" (Zusammenstoß) geliefert.

Danach habe der Jüngere sich dem Älteren gegenüber verpflichtet, die Bardame zu ehelichen. Ob die "Hoheit", die dem anderen Adeligen so etwas vorschreiben kann, auch Österreicher ist? Oder etwa ein Spross eines deutschen Geschlechts? Viel Geheimnisvolles steckt in dieser Meldung. Prostitution war damals streng reglementiert, das Treiben der besagten Dame in einer Pension verboten. Auffällig ist, dass nur die "Kupplerin", aber nicht die Prostituierte belangt wurde - wohl wegen der hochwohlgeborenen "Kunden". Ein echter Skandal in der damaligen Zeit.

An anderer Stelle hingegen berichtet das Blatt damals in kurzweiliger Offenheit und Detailfreude über das Thema Spionage. Berlin ist 1914 offenbar ein beliebtes Ziel für Agenten. Damals schnüffeln - nicht, wie in den heutigen Tagen auch US-Dienste - vor allem Russen. Immerhin gibt es eine Gemeinsamkeit: Damals wie heute gelingt es den Großmächten, deutsche Beamte umzudrehen.

Vor 100 Jahren war es der Vizefeldwebel Walter Pohl, der, von Geldsorgen geplagt, den Russen Unterlagen über "östliche Festungsanlagen" gegen entsprechendes Entgeld zukommen ließ. Der Schreiber im Kriegsministerium sei Teil eines umfangreichen Spionagedienstes, den das Zarenreich in Deutschland unterhalte. In derselben Ausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten ist außerdem von einer Österreicherin die Rede, die in Prag offensichtlich Botengänge für die russischen Schlapphüte erledigte.

Antiösterreichischer Boykottaufruf in Serbien

Münchner Neueste Nachrichten

Titel der Münchner Neueste Nachrichten am 10. Juli 1914

(Foto: Daniel Hofer)

Die Donau-Monarchie und der Nachhall des Sarajevo-Attentats sind auch in der damaligen Freitagsausgabe ein Titelthema. Breiten Platz nehmen die kolportierten Pressestimmen aus Serbien ein, die als österreichfeindlich zitiert werden.

  • Ein namentlicht nicht genanntes Blatt würde zum breiten Boykott aufrufen: Serben sollen demnach keine Waren beziehen und Ärzte meiden, die aus Österreich stammen, sowie keine Fahrten zu Heilbädern im Habsburger-Reich unternehmen.
  • Die Zeitung Politika fröhnt dem Panslawismus, der einen gemeinsamen Staat von Kroaten und Serben propagiert. "Die bestehende Eintracht" zwischen beiden Volksgruppen sei so groß, dass sie durch "nichts in der Welt zerstört" werden könne (die weitere Geschichte sollte zeigen, wie schrecklich der Autor irrt).
  • Das Blatt Stampa wirft den österreichischen Ermittlern vor, die Attentäter von Sarajevo zu foltern. Die dortige Polizei setzt Gravrilo Princip und seine Komplizen "der unmenschlichsten und grausamsten Tortur" aus, "um von ihnen unwahre Geständnisse zu erpressen".
  • Der serbische Premier Nikola Pašić habe versucht, die "Exzesse" der serbischen Presse einzudämmen, aber der Regierungschef habe wohl "keine Mittel", sich durchzusetzen, vermutet die Wiener Allgemeine Zeitung.

Wie die österreichisch-ungarische Regierung nach der Ermordung von Thronfolger Franz Ferdinand weiterverfährt, wird ebenfalls gemeldet. Es werde ein "diplomatischer Schritt in Belgrad bestimmt erfolgen", heißt es. Man werde der serbischen Regierung Namen von Persönlichkeiten nennen und erwarte, "diese Personen zur Verantwortung zu ziehen".

Offenkundig wird damit das Ultimatum angekündigt, das Wien knapp zwei Wochen später an Belgrad richten wird. Die Forderungen haben die österreichischen Kriegstreiber absichtlich so drastisch formuliert, dass sie als unannehmbar gelten. Obwohl Belgrad dann doch, von wenigen Einschränkungen abgesehen, die Forderungen weitgehend erfüllen wird, erklärt Österreich-Ungarn in der Folge dem Königreich Serbien den Krieg.

Es ist der Beginn eines noch nicht dagewesenen Tötens und Sterbens. Dessen Vorspiel kündigt sich in einem Absatz im Morgenblatt der Münchner Neuesten Nachrichten vom 10. Juli 1914 an.

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