Münchner Neueste Nachrichten vom 1. Juli 1914:Künftige Feinde bekunden ihr Beileid

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 1. Juli 1914

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 1. Juli 1914

(Foto: Oliver Das Gupta)

Einen Monat, bevor Europas Mächte einander den Krieg erklären, entrüsten sie sich über das Sarajevo-Attentat. Das SZ-Vorgängerblatt berichtet von einer weinenden Herrscherin - und von Rosa Luxemburg vor Gericht.

Von Oliver Das Gupta

SZ.de dokumentiert, wie die "Münchner Neuesten Nachrichten" vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der "Süddeutschen Zeitung".

"Hochsommerliche Temperaturen, lokale Gewitter", lautet die Wettervorhersage der Münchner Neuesten Nachrichten für den 1. Juli 1914. Auch auf dem Balkan soll es heiß und trocken sein. Von dort werden die Leichen des ermordeten österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gattin Sophie auf dem Seeweg in Richtung Wien transportiert. Die Särge sind per Bahn inzwischen in Dalmatien angelangt, wie in der Spitzenmeldung zu lesen ist. Der ganze Hofstaat des Erzherzogs sei dabei.

Ein Salut für die Toten

An der Küste stünden Einheimische Spalier, ein Geistlicher segne die Särge, die Kirchenglocken läuteten. Der österreichische Statthalter und militärische Würdenträger legten Blumen und Lorbeerkränze nieder. Vor der Küste liegt dem Artikel zufolge der Stolz der österreichich-ungarischen Marine, die Viribus unitis. Das Schlachtschiff nimmt die Toten an Bord. Vorher donnerte es noch gewaltig, als die Viribus unitis einen "Geschützsalut von 19 Schüssen" abgab.

Großen Raum nehmen in dem Blatt die Reaktionen auf den Doppelmord ein - von den Trauerkundgebungen und -bekundungen der Stadt München bis zum Bayerischen Landtag.

Besonders bewegend: Die Schilderung, wie die drei Kinder von der Ermordung ihrer Eltern erfahren haben ("brachen in einen Weinkrampf aus", die Stiefgroßmutter fiel "bei dem herzzerreißenden Anblick der verzweifelten Kinder in Ohnmacht").

Besonders interessant: Die Anteilnahme und Entrüstung in den Staaten, die weniger als einen Monat später mit Österreich-Ungarn (und Deutschland) in einen furchtbaren Krieg verwickelt sein sollten.

  • In London erklärte das Unterhaus in einer Adresse an den König seine "tiefe Teilnahme" mit der österreichischen Kaiserfamilie. Von "Empörung" und "Abscheu" über das Attentat ist die Rede.
  • In Paris bekundet der französische Ministerpräsident im Senat seine "Achtung und vollste Sympathie" gegenüber dem greisen österreichischen Kaiser Franz Joseph I., der seinen Thronfolger verloren hat.
  • In der russischen Hauptstadt Sankt Petersburg soll die Nachricht bei Zar Nikolaus II. und seiner Familie einen "geradezu erschütternden Eindruck gemacht" haben. "Die Zarin war furchtbar erregt und weinte unaufhörlich", heißt es in der Münchner Zeitung.
  • Der deutsche Kaiser Wilhelm II. soll als einziger Fürst dem relativ klein gehaltenen Trauerakt in Wien beiwohnen, weil er mit Franz Ferdinand befreundet war (Wilhelm sollte die Reise aus Sicherheitsgründen später absagen). Auch ein anderer Hochadeliger wollte teilnehmen, aus dessen Land das Attentat gesteuert wurde: der Kronprinz von Serbien. Doch Wien habe, wie bei anderen Anfragen edler Häupter, "dankbar abgelehnt".

Das Attentat und seine Folgen dominieren auch drei Tage nach dem Anschlag von Sarajevo das Nachrichtengeschehen, wobei die Blattmacher der Causa nicht mehr ganz so viel Platz einräumen.

Sowohl in der (am 30. Juni erschienenen) Abend- als auch in der Morgenausgabe rutschen andere Themen mit auf die obere Hälfte der Seite eins: Ein ausführliches, mit Zahlen gespicktes Stück über die "Wirtschaft der deutschen Gaswerke". Und ein Hintergrundtext über das Gerangel um Einfluss zwischen Russland und Großbritannien in Persien, dem heutigen Iran. Worum es den Weltmächten 1914 dort wohl hauptsächlich geht: "Ölkonzessionen".

Die Spitzenmeldung der "Tagesneuigkeiten" sind Ausschreitungen in der spanischen Hauptstadt Madrid. Akteure sind vor allem erboste Frauen - und Bäcker. Die Mehlpreise sinken seit Monaten, doch die Bäcker haben die Preise für ihre Waren "dieser Tage um 20 Prozent erhöht". Nun gibt es Krawall in den Markthallen, wo die Frauen Verkaufsstände "angriffen und umstürzten". Später gehen Bürger und Arbeiter sogar auf die Straße und demonstrieren, wie die Münchner Neuesten Nachrichten berichten.

Auf Seite fünf meldet die Zeitung einen neuen "Flug-Weltrekord". Der russische Flugpionier Igor Sikorski habe die Strecke vom (heute weissrussischen) Orscha bis in die Hauptstadt Sankt Petersburg - immerhin mehr als 600 Kilometer - in acht Stunden zurückgelegt.

Rosa Luxemburg vor Gericht

Beileidsbekundungen an Österreich-Ungarn aus Rom, London und Paris. Wenige wochen später waren Frankreich und Großbritannien, ab 1915 auch Italien im Krieg mit der Donau-Monarchie. Ausschnitt aus den Münchner Neuesten Nachrichten vom 1. Juli 1914.

Beileidsbekundungen an Österreich-Ungarn aus Rom, London und Paris. Wenige Wochen später waren Frankreich und Großbritannien, ab 1915 auch Italien im Krieg mit der Donau-Monarchie. Ausschnitt aus den Münchner Neuesten Nachrichten vom 1. Juli 1914.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Ein paar Seiten weitergeblättert fällt der Blick des Zeitungslesers auf die Rubrik "Gerichtssaal". Dort ist von einem Beleidigungsoprozess gegen eine gewisse Rosa Luxemburg die Rede. Es ging wohl um Missstände beim deutschen Militär. Welche Person von der späteren kommunistischen Ikone beleidigt worden ist, wird in der Meldung nicht klar, wohl aber die Taktik ihrer Verteidiger: Luxemburgs Rechtsanwälte stellen umfangreiche Beweisanträge, wollen 50 Zeugen hören, vielleicht noch mehr, viel mehr: die Rede ist von 922 Personen.

Der deutsche Kaiser ist inzwischen, von Kiel kommend, wieder in Berlin eingetroffen. Er trifft erst den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, später nimmt er "die Vorträge" des Kriegsministers und des Chefs des Militärkabinetts entgegen. Der Kanzler empfängt den Fürsten Lichnowsky, der das Reich als Botschafter in London vertritt.

Alle diese Männer sind in den kommenden Wochen Akteure auf dem Weg in den Krieg. Der wankelmütige Kaiser, der gerne über Krieg schwadroniert, und seine von ihm hochgezüchtete Kamarilla, die von einem großdeutschen Kontinental-Europa träumt und den Monarchen am Ende ausmanövrieren wird (hier mehr dazu).

Und der Fürst Lichnowsky, der zur tragischen Figur wird. Er versucht als einziger Akteur der deutschen Führung bis zum Schluss, den Weltkrieg zu verhindern.

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