Münchner Neueste Nachrichten vom 3. Juli 1914:Herrschaft der Schutzmänner

Münchner Neueste Nachrichten

"Eine Kraftquelle der Nation": In den Münchner Neuesten Nachrichten vom 3. Juli 1914 macht sich ein Autor Gedanken darüber, was die Deutschen auszeichnet.

(Foto: Daniel Hofer)

Wie steht es um den deutschen Volkscharakter - im Vergleich zu dem der Franzosen? Darüber macht sich ein Journalist im SZ-Vorgängerblatt Gedanken, genau einen Monat, bevor Berlin Paris 1914 den Krieg erklärt. Außerdem: Ein Theaterstück sorgt für Aufregung und Opern-Tenor Enrico Caruso zieht vor Gericht.

Von Barbara Galaktionow

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Freitag, 3. Juli 1914, es ist Hochsommer, Ferienzeit. Berlin habe seit Mittwoch unter einer sehr großen Hitze zu leiden, melden die Münchner Neuesten Nachrichten unter Berufung auf ein Privattelegramm. "Donnerstag nachmittag 28,5 Grad Celsius im Schatten." Der erste Feriensonderzug aus Berlin treffe Freitag früh um 5:40 Uhr in München ein, mit insgesamt 500 Reisenden, heißt es im Lokalen.

Hitzig wird in dem Blatt derweil auch eine Theaterkontroverse in der bayerischen Landeshauptstadt geführt. Es geht um Frank Wedekinds Stück "Simson", dessen Aufführung in der Stadt von der Zensurbehörde verboten wurde. Die Verantwortung dafür wird allgemein Ernst von Possart zugeschrieben, dem einflussreichen Generalintendanten der Münchner Hofbühnen. Doch der weist die Schuld weit von sich. Schauspielhaus-Direktor Stollberg ärgert sich und stellt klar, von Possart selbst habe ihm kürzlich gesagt, dass er energisch für das Verbot von "Simson" gestimmt habe, "weil er der Ansicht sei, daß eine solche Schweinerei nicht aufs Theater gehöre". Die Münchner Neuesten Nachrichten veröffentlichen den Briefwechsel im wortlaut.

In Mailand geht derweil der italienische Star-Tenor Enrico Caruso gegen einen "Spezialarzt für Halskrankheiten" vor. Der Mediziner hatte dem Corriere della Sera Informationen über den (offenbar schlechten) Gesundheitszustand Carusos und "insbesondere den Zustand seiner Stimmittel" gesteckt und wurde nun wegen Verletzung des Berufsgeheimnisses verurteilt, meldet die Zeitung.

Deutsches Plus

3. Juli 1914 - das ist genau einen Monat, bevor Deutschland dem großen "Erbfeind" Frankreich den Krieg erklären wird. Noch sieht es nicht nach balidgen Kampfhandlungen zwischen den Nachbarstaaten aus. Doch dass es um das Verhältnis der beiden Nationen nicht zum Besten steht, wird in einer Art Leitartikel auf der Titelseite deutlich. Hier geht es nicht um politische Differenzen, vielmehr liefert der Autor eine neue Volte zur gern diskutierten Frage des National- oder Volkscharakters , die er - kaum überraschend - zugunsten der Deutschen entscheidet.

Für die "lebendige Kraft einer Großmacht" seien nicht nur militärisches und wirtschaftliches Können wichtig, sondern auch die "soziale Homogenität, die einem Staat oder Volk innewohnt", konstatiert der Journalist. Und hier sieht er die Deutschen klar im Vorteil. Während er in Frankreich eine "hastende, rücksichtslos gegen den Nächsten, nach Extremen stürmende andere Welt" ausmacht, national uniform, aber sozial zerklüftet, sieht er in Deutschland trotz tiefer Klassengegensätze das "Plus einer gewissen sozialen Gemeinsamkeit" walten.

Worin diese besteht? In der "Einsicht über Notwendigkeit der Ordnung, Justiz, Selbstzucht". Fremde spotteten in Deutschland oft über "lästige Ordnung, Bevormundung der Individualität, über die Herrschaft des Schutzmanns", konstatiert der Autor. Aber eben gerade das "Fügen von Deutschen, sowohl der äußersten Rechten wie Linken" in die Notwendigkeiten verrate eben die von ihm behauptete besondere soziale Grundlage des Zusammenlebens.

Auch auf patriotische Aufwallungen in Kriegszeiten kommt der Autor zu sprechen - aber wie etwas ganz Entferntes, Abstraktes. Nicht gerade so, als ob diese schon bald zu erwarten seien. Dem "schönsten Elan" sei die in Friedenszeiten erworbene "Kraftansammlung (...) einer stetig und dauernd geübten sozialen Gemeinsamkeit" auf alle Fälle vorzuziehen.

Planungen zum Selbstmordattentat

Auch die Berichte zur Thronfolger-Ermordung und seine Folgen wirken nicht so, als seien hier politische Verwicklungen zu befürchten, die über den begrenzten Raum Bosniens hinausgehen könnten. Größtes Politikum ist die Nachricht, dass der deutsche Kaiser Wilhelm nicht zum Leichenbegängnis nach Wien komme. Sie habe "schmerzliche Ueberraschung ausgelöst", schreiben die Münchner Neuesten Nachrichten.

Mutmaßungen über die Gründe treiben die Wiener um. Vermutungen, wonach Sicherheitsrisiken der Grund seien, habe die Polizei zurückgewiesen: Es habe "kein Grund zu Besorgnissen vorgelegen". Die andere Begründung erscheint wenig schmeichelhaft. So meldet das Münchner Blatt unter Berufung auf die Reichspost, dass der Kaiser wohl aus Protest gegen das "Arrangement allzu kleinherziger Hofbeamter" abgesagt habe. Eine durchaus schlüssige Erklärung: Der Wiener Hof hatte das Leichenbegängnis für den Thronfolger und seine Frau eher bescheiden gehalten - wegen der nicht standesgemäßen Ehe. Sophie Gräfin Chotek galt den Habsburgern nicht als ebenbürtig.

Weinen und Wehklagen in Wien

Das Volk stört sich offenbar nicht daran. Ein "vieltausendköpfiges Publikum" beobachtet in Triest, wie die Leichen des ermordeten Paares im Hafen von Triest eintreffen. Auch bei der Ankunft am Bahnhof in Wien herrscht "großer Andrang". "Hunderttausende waren versammelt. In feierlicher Stille erwartete die Bevölkerung Wiens tieferschüttert den Trauerzug, während dessen Vorbeifahrt vielfach lautes Weinen und Wehklagen erscholl", heißt es in dem Münchner Blatt. Aufbahrung und Zeremonie in der Pfarrkirche der Hofburg werden detailliert beschrieben.

Neue Erkenntnisse gibt es der Zeitung zufolge über die Planung des Attentats. Bombenwerfer Nedeljko Čabrinović habe ein vollständiges Geständnis abgelegt, heißt es. Darin habe er berichtet, wie er den Plan für das Komplott gemeinsam mit dem Todesschützen Gavrilo Princip gefasst habe. Und welche Bedingungen ihnen die Beschaffer der "sechs Bomben und sechs Revolver" stellten.

Eine davon: "Jeder Attentäter hat vor dem Attentat in der rechten Hand die Bombe und in der linken Hand eine Flasche mit Cyankali zu halten, die er sofort nach dem Wegwerfen der Bombe auszutrinken hat." Čabrinović und Princip kamen nach dem Attentat dieser Aufforderung nach - doch das Gift war schon alt und wirkte nicht. Die beiden Verschwörer wurden lebend festgenommen.

Die Tageszeitung Münchner Neueste Nachrichten erschien von 1848 bis 1945 in der bayerischen Landeshauptstadt. Das Blatt war zeitweise die auflagenstärkste tagesaktuelle Publikation in Süddeutschland. Während des Kaiserreiches war die Zeitung liberal ausgerichtet, in der Weimarer Zeit war sie konservativ-monarchistisch, nach der Machtergreifung der Nazis wurde das Blatt gleichgeschaltet. Süddeutsche Zeitung nannten sich die Münchner Neuesten Nachrichten als Untertitel, einen Namen, den die SZ bei ihrer Gründung 1945 annahm. Bis heute trägt der SZ-Regionalteil den Titel Münchner Neueste Nachrichten.

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