Münchner Neueste Nachrichten vom 5. Juli 1914:Der greise Kaiser liebt und heuchelt

Münchner Neueste Nachrichten

Titelseite der Münchner Neueste Nachrichten vom 5. Juli 1914

(Foto: Daniel Hofer)

Im Mordfall Franz Ferdinand weisen die Spuren nach Serbien, doch Österreichs Kaiser scheint keine Lust zu haben auf Krieg. Ein bayerisches Gericht straft einen prügelnden Preußen, in Brüssel sorgt ein Häftling für Furore. Was heute vor 100 Jahren in der Zeitung stand.

Von Oliver Das Gupta

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

In Marktl am Inn gab es im Sommer 1913 einen denkwürdigen Zwischenfall mit einem "renitenten Vergnügungsreisenden", der den Münchner Neuesten Nachrichten noch ein Jahr später eine Meldung wert ist. Der Berliner Professor Joseph Rauch befand sich demnach in seinem Automobil auf der Durchfahrt in Richtung Altötting.

Dort wurde er von einem Staatsstraßenwärter angehalten: Das "Nummernschild sei gänzlich verstaubt und unleserlich" gewesen. Das sah der Preuße am Steuer offenkundig rot. Sehr erregt habe Rauch den Wärter "Sauhund" und "Saubayer" genannt und ihm Faustschläge auf den Kopf versetzt. Vor Gericht wurde Rauch zu insgesamt 730 Mark Strafe verdonnert, notiert die SZ-Vorgängerin.

Was nicht in der Zeitung steht, wohl aber anzunehmen ist: Dass der örtliche Gendarmeriemeister Joseph Ratzinger sich damals des Falles angenommen hat. Vielleicht hat er ja später seinen Kindern Maria, Georg sowie Joseph Junior, dem späteren Papst, von dem preußischen Wüterich erzählt.

In derselben Ausgabe konnten die Zeitungsleser erfahren, dass der in Sarajevo erschossene österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau endlich in der Gruft bestattet worden sind - eine Woche nach der Ermordung.

Der Wiener Obersthofmeister muss sich von der Presse schelten lassen, dass er die Trauerfeierlichkeiten klein gehalten habe. Von der Kritik ausgenommen und doch letztendlich verantwortlich war Kaiser Franz Joseph I. von Österreich.

Seit längerem war dem greisen Monarchen sein Neffe und Thronfolger auf den Geist gegangen. Franz Ferdinand hatte zuerst gegen den Widerstand des Kaisers seine Sophie geheiratet und dann eine Art Nebenregierung aufgebaut.

Nun, nach dem Doppelmord, tat Franz Joseph seine Trauer noch einmal schriftlich kund - eine Trauer, die ein gutes Stück geheuchelt war. Da ist von "meinem innig geliebten Neffen" die Rede und seiner "hochherzigen, in der Stunde der Gefahr bei ihm treu ausharrenden Gemahlin". Doch zur Teilnahme an deren Bestattung ließ sich der Kaiser nicht herab - eine letzte von zahlreichen Demütigungen.

Das in der Zeitung abgedruckte "Handschreiben" des Kaisers ist gleichzeitig eine Liebeserklärung an seine Untertanen. Franz Joseph beschwört die "geheiligten Banden", die ihn mit seinen Völkern "umschlingen" und von "Gefühlen inniger Liebe".

Preisgekrönter "Zuchthäusler"

Interessant aus heutiger Sicht: Der Kaiser wettert gegen den "Wahnwitz einer kleinen Schar Irregeleiteter", die seinen Neffen ermordet haben. Das klingt nicht nach Vorwürfen an die serbische Führung und schon gar nicht nach Lust auf Eskalation und Kriegslust.

Kaiser Franz Joseph I. von Österreich

Kaiser Franz Joseph I. von Österreich (1830-1916)

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Dabei berichtet auf derselben Seite ein Zeitungsmitarbeiter aus Budapest von den neuen, frappierenden Erkenntnissen über die Hintermänner des Sarajevo-Attentats. Demnach habe einer der verhafteten Mittäter gestanden, dass einer der Drahtzieher ein serbischer Major sei. Ebenso sei der serbische General Jankevic "kompromittiert" worden. Außerdem sei nachgewiesen, dass die Sprengsätze der Attentäter aus dem königlich serbischen Arsenal in Kragujevac stammten.

Doch von einer drohenden Kriegsgefahr fehlt jede Spur im Blatt. Der Evangelische Handwerkerverein München feiert sein Sommerfest in der Menterschwaige, der Jüdische Wanderbund Blau-Weiß ruft zur "Trefffahrt nach Perlach" auf. Die Zeitungsleser können sich ausführlich über die "Kämpfe der Befreiungskriege in den Münchner historischen Schlachtengemälden" informieren und bangen um die in Innsbruck entführte Münchnerin Kreszenz Leitzinger.

Aus dem fernen Brüssel wird die "Auszeichnung eines seltenen 'Privatgelehrten'" berichtet. Die belgische Akademie der Wissenschaften habe einen Preis und eine Auszeichnung an einen Zuchthäusler vergeben. Der Name des geehrten wird nicht genannt, wohl aber, dass er wegen Falschmünzerei schon seit fast immer wieder 20 Jahren im Gefängnis sitzt. Dort habe er sich mit schwierigen mathematischen Problemen gewidmet und darüber bedeutende Arbeiten verfasst.

Einen Monat später sollten deutsche Truppen das neutrale Belgien überfallen, was die Briten zum Kriegseintritt bewegen wird. Doch das weiß in Brüssel Anfang Juli niemand, in München kennen bestenfalls einzelne Köpfe die Planungen Berlins. Dort ist die Invasion Belgiens unerlässlicher Teil des Schlieffenplans, mit dem man Frankreich niederringen will.

Die Weichen zum Krieg stellt der deutsche Kaiser Wilhelm II. Anfang Juli 1914, es ist der berüchtigte "Blankoscheck" für einen Militärschlag Österreichs gegen Serbien. Am 5. Juli vor berichtet der österreichische Botschafter in Berlin, Ladislaus von Szögyény-Marich, in einem geheimen Schreiben, dass die deutsche Reichsführung hinter einer Militäraktion steht: Deutschland werde "in gewohnter Bündnistreue an unserer Seite stehen", selbst wenn es sogar zu einem Krieg zwischen Oesterreich-Ungarn und Russland kommen werde".

Und so kam es dann auch vier Wochen später.

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