Möglicher Wowereit-Nachfolger Raed Saleh:Im Namen des Vaters

Der Sohn eines palästinensischen Einwanderers hat sich vom Burger-Bräter bis an die Spitze der Berliner SPD-Fraktion gearbeitet. Er startete als Außenseiter - jetzt ist er der spannendste Kandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters.

Von Jens Schneider, Berlin

Raed Saleh begann seine Erzählung am Grab seines Vaters. Es war ein Moment, der sich vielen Zuhörern eingeprägt haben dürfte, auch jenen, denen dabei viel zu viel Pathos mitschwang. Es war die erste von vielen Vorstellungsrunden der drei Kandidaten für die Nachfolge von Klaus Wowereit als Regierender Bürgermeister von Berlin vor rund 600 Zuhörern im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Als Saleh an der Reihe war, berichtete er den Genossen, wie er mit seinem vor zwölf Jahren verstorbenen Vater einen Dialog geführt habe. "Ich fragte ihn, was er mir raten würde", sagte der 37-Jährige. Was solle er tun in dieser Situation, da Berlins SPD einen neuen Bürgermeister sucht? Sein Vater habe ihm geantwortet: "Raed, arbeite hart. Arbeite hart für deine Heimat."

Saleh sprach mit vielen Pausen, er trug die Episode wie einen Dialog vor. Es wurde ungewöhnlich ruhig in dem dicht besetzten Saal. Man konnte sich von dieser Erzählung berühren lassen. Aber von manchen Sozialdemokraten konnte man auch hören, dass sie diesen Moment verstörend fanden und Salehs Auftritt beinahe theatralisch. Dabei entsprach dieser Beginn ganz dem jungen Sozialdemokraten arabischer Herkunft, seinem Wesen, seiner Geschichte und seinem Blick aufs Leben. Raed Saleh ist für überregionale Medien der mit Abstand spannendste Kandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters in der deutschen Hauptstadt. Der Fraktionschef der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus ist gebürtiger Palästinenser, mit fünf Jahren nach Deutschland gekommen, in einem Hochhausviertel in Spandau aufgewachsen, und - wie er selbst sagt - "Berliner durch und durch". Mit ihm könnte erstmals ein Einwanderer-Kind Regierungschef eines Bundeslandes werden.

Die Worte des Vaters prägten ihn

Seit Saleh seine Kandidatur bekannt gab, durfte er ausländischen Sendern und Zeitungen viele Interviews geben. Journalisten aus Amerika oder Israel wollten wissen, wie ein Berliner arabischer Herkunft diese Stadt mit ihrer großen, aber auch schwierigen Geschichte führen würde. Sie wollten auch von seinem Aufstieg erzählen, der nur zu verstehen ist über die Geschichte seines Vaters. Eines Palästinensers aus einem kleinen Dorf, der seine Frau und die neun Kinder einst als Gastarbeiter nach Berlin brachte und Jahrzehnte in einer Berliner Großbäckerei arbeitete. Die Worte seines Vaters haben Saleh stark geprägt, vielleicht mehr als alles andere. Als der Vater starb, habe dies den jungen Mann aus Spandau zutiefst erschüttert. "Er besucht ihn oft", sagt ein langjähriger Freund aus Schulzeiten. Demnach gehört der Dialog am Grab zu ihm.

Als der Vater mit der Familie nach Berlin kam, die Koffer ausgepackt wurden, gab er den Kindern für ihr Leben in dieser neuen Welt einen klaren Rat mit auf den Weg. Dies sei jetzt ihre Heimat, habe er ihnen gesagt, so erzählt es Saleh. Sie sollten sich einfügen, nach den Regeln dieser Heimat leben, und in Berlin fleißig sein. Ein früherer Schulleiter von Saleh und seinen Geschwistern erinnert sich gut daran, wie viel Wert der Vater auf Aufstieg und Bildung legte, wie er die Kinder mahnte: Das ist jetzt euer Zuhause, Benehmt euch, macht mit.

Der "König von Spandau" gilt als begabter Strippenzieher

Saleh musste die Sprache dieser neuen Heimat erst noch lernen. Bis heute hört man ihm dies zuweilen an, er weiß das, weist gern darauf hin. Seit er in den letzten Jahren so schnell in der SPD aufstieg, wurde oft über seine Ausdrucksweise gespöttelt, derb zuweilen, als könne der Aufsteiger, der im Abi in Deutsch eine Eins hatte, die Sprache nicht. Er hat eine eigene Melodie in seiner Sprache. Wer ihm zuhört, merkt aber bald, dass Saleh besonders korrekt spricht, weniger Fehler macht als andere. In seinem Heimat-Bezirk spielt all das keine Rolle mehr. Das sagt ein prominenter Genosse aus der SPD, Saleh sei der "König von Spandau", hoch geachtet als verlässlicher Ansprechpartner. Er gilt als ein begabter Strippenzieher, der sich auf Machtspiele verstehe. Manchen in der Berliner SPD ist diese Begabung auch unheimlich, sie weckt Misstrauen.

Er trug Zeitungen aus und arbeitete im Burger King

Saleh hat die Vorgaben des Vaters verinnerlicht. Er fing früh an, hart zu arbeiten. Als Schüler fiel er höchstens auf, weil er keine Zeit für Eskapaden hatte, nicht auf der Straße rumhing. Er trug Zeitungen aus, arbeitete als 16-Jähriger schon beim Burger King im Schichtdienst. Dort stieg der ehrgeizige Junge von der Hilfskraft bald zum Schichtleiter auf. Später führte er ein Restaurant, leitete bald auch ein Café in der Spandauer Altstadt.

Zu diesem Aufstieg gehörte oft die anfängliche Skepsis, das fehlende Zutrauen der anderen. Das Muster zog sich durch die Jahre. Man stößt schon in den Erzählungen aus der frühen Kindheit darauf. Als Grundschüler erzählte der ewig viel plappernde Junge allen, dass er Arzt werden wollte. Das entsprach gewiss einem Wunsch des Vaters, so ein Beruf symbolisierte den Aufstieg, den er für seine Kinder wollte. Die Lehrer schüttelten damals den Kopf, sie trauten es dem Jungen, der noch Schwierigkeiten mit der fremden Sprache hatte, nicht zu. Sie glaubten nicht, so erinnert sich der Schulleiter der Grundschule, dass es bei ihm dafür reichen würde.

Unter seiner Führung wurde die Fraktion zum Machtzentrum

Es reichte dann doch erst für das Gymnasium, dann für ein Medizinstudium, das Saleh aber abbrach, als er mit einem kleinen Start Up-Unternehmen Erfolg hatte und Geld verdiente. Eine typische Aufsteiger-Entscheidung. In dieser Zeit war der Junge mit der klassischen sozialdemokratischen Biographie schon in die SPD eingetreten. Bald wurde er Direktkandidat in Spandau, gewann sein Mandat. Ende 2011 eroberte er die Führung der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, wieder als Außenseiter. Der Regierende Bürgermeister Wowereit soll ihm damals abgeraten haben: Das könne Saleh nicht, er solle sich etwas anderes suchen. Inzwischen hat sich die Fraktion unter Salehs Führung zu einem eigenen Machtzentrum entwickelt, mit selbstbewussten Abgeordneten.

Saleh hat oft betont, dass er kein Politiker für Migrationsfragen sein möchte. Er interessierte sich zunächst vor allem für Wirtschaft und Finanzen. Aber Aufmerksamkeit bekam er doch zunächst, vor allem, als es um den Blick auf das Leben von Migranten ging. Saleh zählte zu den ersten, die schon vor Jahren den Sozialdemokraten und einstigen Finanzsenator Thilo Sarrazin wegen seiner Thesen heftig angriffen. Er kritisierte ihn als als "eindeutig rassistisch". Sarrazin habe keine Ahnung vom Leben der Migranten, empörte sich Saleh über pauschale Vorwürfe, dass viele sich angeblich nicht integrieren wollten. Und hielt dagegen: Die meisten würden Deutsch lernen und alles tun, um beruflich voran zu kommen.

Dabei ist er selbst alles andere als nachgiebig, wenn es um Ansprüche geht, die an junge Migranten gestellt werden. Wem geholfen werde, der müsse auch sich auch selbst anstrengen, verlangt Saleh. Alle Jugendlichen, müssten sich an Regeln halten. In seinem Kiez in Spandau rief er ein Projekt "Stark ohne Gewalt" ins Leben, um Konflikte von Jugendbanden zu entschärfen. Und zum Leben von jungen Berlinern, deren Eltern aus der arabischen Welt in die Stadt kamen, gehört für Saleh ausdrücklich auch das Wissen um die dunkelste Seite der deutschen Geschichte. So fuhr er 2013 mit einer Gruppe Jugendlicher nach Ausschwitz, in die KZ-Gedenkstätte. Sie sollten wissen, sagte er, "dass dies zur Geschichte ihres Landes gehört", zu ihrer Heimat. Alle Deutschen müssten die Verantwortung für diese Gräuel tragen, auch die Kinder der Migranten.

"Die Frage ist: Bist du so weit?"

Bei den Mitgliederforen der SPD, im Wettbewerb mit den Konkurrenten Jan Stöß und Michael Müller, ging es mal um den Hauptstadtflughafen, an dem nichts voran geht, dann um die fehlenden Wohnungen oder die knappen Finanzen der Stadt. Saleh gab viele inhaltliche Bekenntnisse ab. Er wolle Studentenwohnungen bauen, den Kurs der Haushaltskonsolidierung fortsetzen, er wolle keine unhaltbaren Versprechungen machen. Vor allem aber erzählte Saleh viele Geschichten von Begegnungen aus Berlin. Sie waren Teil seiner sorgfältig konzipierten Auftritte. Vor allem eine sollte sich einprägen, als pfiffige Antwort auf Vorbehalte gegen seine Herkunft. Sie handelte von der Begegnung mit einem Genossen in Pankow. Der habe ihn erst sehr gelobt und auch unterstützen wollen, erzählte Saleh, aber dann doch Zweifel geäußert - mit einem Blick auf mögliche Ressentiments von anderen. Er wisse ja nicht, so habe der Mann gesagt, ob die Berliner reif seien für einen wie Saleh, für den im Westjordanland geborenen Migranten, der seine Herkunft nicht verbergen kann und will.

Da habe er ihm geantwortet, dass diese Frage falsch gestellt sei. Es gehe überhaupt nicht um die anderen, sagt Saleh. "Die Frage ist: Bist du so weit?" habe er dem Mann entgegnet. Das ist der Slogan, mit dem er sich an die Stadt richtet. Auf den SPD-Veranstaltungen tragen einige junge Unterstützer rote T-Shirts mit der Aufschrift: "Ich bin so weit".

Niemand kann wissen, wie weit ihn diese Idee trägt. Erzählt wird, dass es in einigen Bezirken große Vorbehalte gibt. Saleh und sein Umfeld haben freilich von Beginn an kalkuliert, dass ihm zunächst der zweite Rang in der Mitgliederbefragung reichen sollte. In der Stichwahl könnte der Wettbewerb neu beginnen. Und er hat am wenigsten zu verlieren. Er ist deutlich jünger als der 49 Jahre alte Favorit Michael Müller. Der sagt jetzt gern über ihn, dass Saleh ein hervorragender Fraktionsvorsitzender sei. "Das soll er auch möglichst lange bleiben." Saleh lächelt dazu. Er könnte wohl mit einer Niederlage gut leben, solange sie nicht zu herb ausfällt. Er kann warten, er hat Zeit.

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