Möglicher Militäreinsatz gegen Syrien:Unerträglicher Konflikt zwischen Moral und Recht

15 Staaten sind im UN-Sicherheitsrat vertreten, und oft blockieren sich die fünf Vetomächte gegenseitig. Bislang verhindern Russland und China eine Verurteilung Syriens. Doch wäre es erlaubt, den Sicherheitsrat zu umgehen, wenn Menschenrechte - wie beim mutmaßlichen Giftgaseinsatz in der Nähe von Damaskus - massiv verletzt werden? Völkerrechtler sind sich in dieser Sache nicht einig.

Von Stefan Ulrich

US-Präsident Barack Obama hat stets Wert darauf gelegt, sich von seinem - je nach Betrachtungsweise - interventionsfreudigen bis kriegslüsternen Vorgänger George W. Bush abzuheben. Deswegen kann der gelernte Verfassungsrechtler Obama in der Syrien-Krise das Völkerrecht schlecht ignorieren. Er wird sich bemühen, einen möglichen Militärschlag gegen das Assad-Regime in Damaskus besser zu legitimieren, als es Bush bei seinem Krieg gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein tat. Obama will Beweise vorlegen, dass die Truppen Assads vergangenen Mittwoch Giftgas einsetzen und so Hunderte Menschen auf grässliche Weise töteten. Sollten Russen oder Chinesen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dann immer noch eine Strafaktion verhindern, dürfte Obama argumentieren, der Schutz der Menschenrechte legitimiere einen Militärschlag ohne UN-Mandat.

Der britische Außenminister William Hague erklärte bereits, es sei zulässig, aus humanitären Gründen auch ohne das Plazet des 15 Mitglieder starken Sicherheitsrats auf einen Chemiewaffeneinsatz zu reagieren. Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte am Dienstag den Präsidenten des US-Forschungsinstituts Council on Foreign Relations, Richard Haass, mit den Worten: "Der UN-Sicherheitsrat ist nicht der einzige und alleinige Aufseher darüber, was legal und was legitim ist." Ein Land wie Russland dürfe sich nicht zum "Richter über das Völkerrecht" aufspielen.

Ähnlich wie 1999 zu Zeiten des Kosovo-Krieges stellt sich die Frage: Wann dürfen anderen Staaten militärisch in einem Land eingreifen, wenn dort schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen werden? Unstrittig ist im Falle Syriens die Ausgangslage: Das Völkerrecht verbietet Einsätze von Chemiewaffen im Krieg, also auch in einem Bürgerkrieg. Zwar hat Syrien die Chemiewaffenkonvention von 1992 nicht unterzeichnet. Das Verbot gilt jedoch schon seit Jahrzehnten als Völkergewohnheitsrecht, an das die Regierung in Damaskus gebunden ist. Kein Geheimnis ist zudem, dass Syrien Chemiewaffen besitzt.

Unbewiesen ist bis jetzt jedoch, ob der mutmaßliche Chemiewaffeneinsatz syrischen Regierungseinheiten zuzurechnen ist. Diese Feststellung zu treffen, liegt auch nicht im Mandat der UN-Inspektoren. Falls der Nachweis erbracht werden sollte, wäre es Aufgabe des Sicherheitsrats, über einen Militärschlag zu entscheiden. Die UN-Charta, die unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurde und bis heute als grundlegend für das Völkerrecht gilt, verbietet in ihrem Artikel 2 Absatz 4 den Einsatz von Gewalt in den internationalen Beziehungen. Allerdings dürfen sich Staaten gegen Angriffe verteidigen oder anderen angegriffenen Staaten helfen. Zudem kann der UN-Sicherheitsrat Militäreinsätze erlauben, um den Weltfrieden zu bewahren oder wiederherzustellen.

Darf der UN-Sicherheitsrat übergangen werden?

Die fünf ständigen Mitglieder im Rat - die USA, China, Russland, Großbritannien und Frankreich - können sich aber meist nicht auf eine Intervention einigen. So kommt es, dass der Rat bei schweren Konflikten häufig blockiert ist, selbst wenn es zu massenhaften, schwersten Menschenrechtsverletzungen kommt. Interventionswillige Staaten stehen dann vor der Frage: Dürfen sie den Sicherheitsrat umgehen?

Im Kosovo-Krieg rechtfertigten die Nato-Staaten ihre Militärschläge gegen das Jugoslawien des Slobodan Milosevic als "humanitäre Intervention". Sie argumentierten, die Erfahrungen der Nazi-Zeit lehrten, dass die Welt nicht wegsehen dürfe, wenn sich ein Genozid anbahne. Sei der Sicherheitsrat blockiert, müssten eben die Staaten handeln, die dazu bereit seien.

Diese Argumentation hat große Debatten unter den Völkerrechtlern ausgelöst. In den Folgejahren wurde erörtert, inwieweit es im Völkerrecht eine "Responsibility to protect" (Schutzverantwortung) gibt, kurz "R2P" genannt. Die Staaten der Vereinten Nationen erkannten diese Schutzverantwortung bei einem Gipfeltreffen im Jahr 2005 nahezu einstimmig an. Demnach trägt jeder Staat Verantwortung gegenüber seiner eigenen Bevölkerung. Kommt er dieser nicht nach, dann kann sich die Internationale Gemeinschaft der Angelegenheit annehmen. Der UN-Sicherheitsrat muss diese Schutzverantwortung bei seinen Beschlüssen berücksichtigen. Nur eine Minderheit der Völkerrechtler geht jedoch so weit, einzelne Staaten zur Intervention zu ermächtigen, falls der Rat blockiert ist und damit versagt.

Und wenn sich die Lage in Syrien noch verschlimmert?

Auch der Völkerrechtsprofessor Thilo Marauhn von der Universität Gießen lehnt ein solches Interventionsrecht unter Umgehung des UN-Sicherheitsrats ab. Er argumentiert, eine globale Werteordnung, aus der ein solches Recht abgeleitet werden könnte, sei zwar wünschenswert, existiere aber bislang nicht. "Vielmehr gibt es auf unserer Erde ganz unterschiedliche Gesellschaftsmodelle und Wertvorstellungen." Umso wichtiger sei das Gewaltverbot der UN-Charta, das ein friedliches Zusammenleben der Systeme gewährleisten wolle. Dieses Gewaltverbot dürfe nicht aufgeweicht werden. Die Staaten sollten vielmehr versuchen, einen Konsens im Sicherheitsrat zu finden und sich vor allem auf wirksamere Instrumente zum Schutz der Menschenrechte verständigen.

Doch was, wenn sich die Lage in Syrien verschlimmert? Oder wenn es anderswo zu Menschenrechtsverletzungen kommt, die das Ausmaß eines Genozids annehmen? Sollen interventionsbereite Staaten untätig einem gelähmten Sicherheitsrat zusehen? Professor Marauhn räumt ein, es könne zu einem "unerträglichen Konflikt zwischen Moral und Recht kommen". In solchen Fällen sei ein Militäreinsatz unter Bruch der UN-Charta zwar immer noch nicht gerechtfertigt, aber nachvollziehbar.

Marauhn erinnert an seinen Münchner Völkerrechtskollegen Bruno Simma, der im Kosovo-Krieg von einer "lässlichen Sünde" der Nato sprach. Simma wurde dafür heftig von anderen Völkerrechtlern gescholten. Marauhn sagt jedoch im Hinblick auf mögliche künftige Völkermorde: "Es kann zu Situationen kommen, in denen ich nicht mehr weit von Herrn Simma entfernt wäre."

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