Mittelmeer:Italien, die Einbahnstraße für Flüchtlinge

Migrants stands in line after disembarking from the Norwegian vessel Siem Pilot at Pozzallo's harbour

Im Hafen von Pozallo auf Sizilien gehen Flüchtlinge aus Nordafrika von Bord.

(Foto: REUTERS)

In den ersten zehn Monaten 2016 haben so viele Flüchtlinge wie nie Italiens Küsten erreicht. Das Land versucht, die Aufgabe zu bewältigen, und verzweifelt an den EU-Partnern.

Von Oliver Meiler, Rom

Die Bilder gleichen sich so sehr, dass sie wirken wie in einer Dauerschleife, immer wiederkehrend. Jeden Abend zeigen die italienischen Fernsehsender in ihren Nachrichten neue Bilder von Rettungsschiffen, die Flüchtlinge aus Afrika in die Häfen im Süden bringen - nach Augusta, Pozzallo, Palermo, Messina, Catania, Reggio Calabria. Das sind die Hauptziele, von hier werden die Migranten verteilt auf ganz Italien.

Gerettet werden die Menschen weit weg, im Kanal von Sizilien, zumeist nur einige Seemeilen entfernt von der libyschen Küste, wo sie an Bord halb betankter und übervoller Barken und Schlauchboote ablegen. Kommen sie in Italien an, sind sie müde, aber glücklich. Auch das sieht man auf den immer gleichen Bildern in den Abendnachrichten.

2016 ist ein Rekordjahr

Es sind vor allem junge Männer, die ankommen, eingehüllt in goldene Aluminiumfolien. Die meisten stammen aus Nigeria, Eritrea, Guinea, Gambia, der Elfenbeinküste, dem Sudan, Mali, Senegal, Somalia - in dieser Reihenfolge. Alle haben ihr Leben riskiert, um nach Europa zu kommen. Die Route durch das zentrale Mittelmeer ist die gefährlichste, die tödlichste.

Vielleicht erklärt das, warum weniger Frauen mit Kindern dabei sind. Von den 94 396 Flüchtlingen, die im laufenden Jahr Asyl in Italien beantragt haben, waren 80 539 Männer und nur 13 857 Frauen. Manche der jungen Männer sind nicht einmal volljährig. In diesem Jahr wurden fast doppelt so viele unbegleitete Minderjährige registriert als im Vorjahr: 20 000. Man kann nur hoffen, dass Italien die Kraft hat, diese besonders verletzlichen Ankömmlinge einigermaßen zu schützen. Auch jetzt, da es an die Grenzen seiner Möglichkeiten stößt.

2016 ist Rekordjahr. Mehr als 157 000 Flüchtlinge haben Italien in den ersten zehn Monaten erreicht. Mehr als 2015, mehr auch als 2014. Und da die Schlepper keine Skrupel zu haben scheinen, ihre Boote auch bei rauer See loszuschicken, ist zu befürchten, dass die Zahl der Ankünfte auch im Winter nicht sinken wird, wie das in früheren Jahren der Fall war.

Seit der Schließung der Balkanroute kommt es vielen Italienern so vor, als führten die Fluchtrouten mittlerweile auf einer Einbahnstraße in ihr Land. Diese Wahrnehmung wird von den Bildern im Fernsehen gestärkt. Und da die Länder im Norden - Österreich, die Schweiz, Frankreich - ihre Grenzen seit einiger Zeit strenger kontrollieren, endet die Flucht auch für jene Migranten in Italien, die lieber weiterziehen würden.

Die Auffangzentren sind längst voll, es braucht dringend neue Plätze. Doch viele Gemeinden weigern sich, Flüchtlinge aufzunehmen. Bisher sind erst 2600 der 8000 italienischen Gemeinden bereit, Migranten bei sich unterzubringen. In seltenen Fällen fühlt sich die Regierung gezwungen, den Widerstand mit Gewalt zu brechen - zum Beispiel mit der Beschlagnahmung von Räumlichkeiten. Das kommt natürlich nirgends gut an, gerade wenn der Staat mit Arroganz vorgeht.

Widerstand im Fischerdorf

In dieser Woche gab der Fall von Gorino viel zu reden, einem kleinen Fischerdorf am Mündungsdelta des Flusses Po, das nur über eine schmale Straße erreichbar ist. Als die Polizei den Beschlagnahmungs-Bescheid an die Tür des einzigen Gasthofs heftete, wo zwölf Frauen und acht Kinder untergebracht werden sollten, errichtete die Bevölkerung mit Holzpaletten schnell eine Straßenblockade.

Um den Bus zu stoppen, der schon zu ihnen unterwegs war. Auch diese Bilder kamen in den Nachrichten, die Dorfbewohner sagten, man lasse sich nicht gängeln von der "Diktatur der Aufnahme". Man sei keineswegs rassistisch, doch es sei doch klar, dass nach den Frauen und den Kindern bald auch deren Männer und Väter kämen: "Es wird eine Invasion geben", sagte einer in die Kameras.

Der Staat gab klein bei, obschon die Herberge der Provinz gehört. Der Bus musste umkehren, die Flüchtlinge wurden auf drei Zentren der Provinz aufgeteilt. Am Eingang von Gorino tranken sie darauf Rotwein, grillten Würste, als gebe es etwas zu feiern. Später wurde bekannt, dass die fremdenfeindliche Lega Nord, die im Veneto traditionell stark vertreten ist, den Aufstand der Bürger mit ihrer Propaganda befeuert hat. Parteichef Matteo Salvini twitterte: "Ich stehe an der Seite der Bürger von Gorino."

Im italienischen Innenministerium befürchtet man nun, dass das Einknicken des Präfekten die Bewohner anderer Gemeinden dazu bewegen könnte, Gorino nachzuahmen. Innenminister Angelino Alfano war dermaßen erzürnt über die Aktion, dass er den beteiligten Bürgern dort ausrichtete, ihr Verhalten spiegle nicht das wahre Italien. Mehr Verständnis brachte ihnen Premier Matteo Renzi entgegen. Er räumte gar ein, dass der Staat Fehler mache und manchmal nicht gut genug kommuniziere und auch nicht immer gut organisiere. Renzi ist sichtlich darum bemüht, den Rechtspopulisten im Land keinen zusätzlichen Stoff für ihr Gehetze zu geben.

"Ein weiteres Jahr wie dieses schaffen wir nicht"

Eher angreifend ist sein Ton hingegen, wenn er sich an die EU-Partner wendet. Auch dieser Diskurs dient nebenbei dazu, die innenpolitische Opposition zurückzubinden. Renzi sagt, sein Land sei der Herausforderung des Flüchtlingsandrangs zwar gewachsen: "Doch ein weiteres Jahr wie dieses schaffen wir nicht." Da schwingt eine Art Ultimatum mit. Renzi wirft den Partnerstaaten vor, sie ließen es in inakzeptabler Weise an Solidarität mangeln. Das große Umsiedlungsprogramm für Flüchtlinge? Es scheitert am Willen zur Umsetzung. Besonders hart ist die Weigerung osteuropäischer Länder, die keinen einzigen Migranten aus Italien übernehmen wollen.

Renzi mag das nicht länger hinnehmen und droht nun sogar damit, Italiens Zahlungen an die EU zu suspendieren, wenn die "Mauerbauer" obsiegten. Er meint damit Ungarn, die Tschechische Republik, die Slowakei. Italien, sagt Renzi, komme allen seinen Verpflichtungen nach, den humanitären wie den juristischen: Es koordiniere die Rettung der Migranten aus der Seenot, wie es die humanitäre Tradition des Kontinents befehle. Und es registriere mittlerweile auch jeden einzelnen Ankömmling in den dafür eingerichteten Hotspots, wie das Brüssel fordere. Da sei es nur fair, wenn auch die Partner endlich ihren Teil leisteten. Und zwar alle.

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