Mittelmeer:Das Leiden der Flüchtlinge findet neue Orte

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Das wilde Lager in Idomeni hat die griechische Regierung räumen lassen. Andernorts sind die Zustände chaotisch, etwa im Abschiebelager Moria auf Lesbos. Hier kam es in der Nacht zu Donnerstag zu Ausschreitungen. (Foto: AFP)
  • Vor der libyschen Küste und vor Kreta kentern Flüchtlingsboote - viele Menschen kommen ums Leben.
  • Weil die Balkanroute geschlossen und das Wetter in der Mittelmeerregion gut ist, wagen wieder mehr Menschen die Überfahrt.
  • Das zeigt: Trotz der Schließung von Idomeni bleibt Griechenland im Zentrum der Flüchtlingskrise.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Vom wilden Flüchtlingscamp Idomeni im Norden Griechenlands ist außer plattem Boden nicht mehr viel zu sehen. Die Bulldozer haben einfach alles weggeschoben, was hier einmal stand. Nur die Krise, die ist das Land deshalb noch lange nicht los; sie hat sich nur neue Schauplätze für ihre kleinen und großen Dramen gesucht. Am Freitag ist es die Insel Kreta.

Gut 75 Seemeilen vor der Küste der Insel kentert ein Flüchtlingsschiff. Das Ausmaß der Katastrophe ist zunächst nicht ganz klar. Bis zu 700 Flüchtlinge könnten sich auf dem Fischkutter aufgehalten haben. Diese Information verbreitet die Internationale Organisation für Migration (IOM), die Küstenwache will sie zunächst nicht bestätigen. Von 500 Passagieren ist stattdessen die Rede. Mehr als 340 Menschen haben die Retter bis Freitagnachmittag aus dem Wasser gefischt. Vier sind tot, Dutzende werden vermisst. Fünf Schiffe, die sich in der Nähe befanden, haben die Unglücksstelle angesteuert. Die Küstenwache ist mit ihren Booten im Einsatz. Die meisten der Geretteten werden nach Italien gebracht. "Die bange Frage ist, wie viele Menschen tatsächlich an Bord des rund 25 Meter langen Kutters gewesen sind", sagt ein Offizier der Küstenwache.

Das ist aber nicht die einzige bange Frage des Tages, denn dies bleibt auch nicht das einzige Unglück.

104 Leichen vor der libyschen Küste

Auf der anderen Seite des Mittelmeers, an der libyschen Küste, entdeckt die Marine am Freitag 117 Leichen. Auch dort ist ein Schiff gekentert, womöglich am Mittwoch schon.

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Das Sterben im Mittelmeer nimmt einfach kein Ende. Offiziere der griechischen Küstenwache gehen davon aus, dass das vor Kreta gekenterte Flüchtlingsboot aus Ägypten kam und nach Italien unterwegs war. Den ersten Notruf soll die italienische Küstenwache empfangen haben, die anschließend die Griechen benachrichtigte. So rekonstruieren griechische Medien die Vorgänge. Erst vergangene Woche waren mindestens drei Schiffe auf dem Weg von Libyen nach Europa untergegangen.

Seitdem die sogenannte Balkanroute für Flüchtlinge weitgehend geschlossen bleibt, wählen die Schleuserbanden neue Routen. Und Kreta liegt an einer diesen neuen Routen. Vor drei Tagen wurden 113 Flüchtlinge nordöstlich von Kreta aufgegriffen. Sie kamen aus Antalya. Vor einer Woche erreichten 64 Migranten die Insel. Vorbereitet ist sie nicht.

Seitdem die Türkei mit der Europäischen Union gemeinsam den Flüchtlingspakt umsetzt, ging in der Ostägäis die Zahl der Flüchtlinge rapide runter. Statt einiger Tausende kamen nur noch Dutzende in Griechenland an. Am Freitag waren es offiziellen Statistiken zufolge 152. Das Wetter ist gut, die See ruhig. Das ist ein Grund, warum doch wieder mehr Flüchtlinge die Überfahrt wagen und jetzt auch den längeren Weg in Richtung Italien auf sich nehmen. Wenn sie denn dort ankommen.

Die griechischen Zeitungen schreiben schon von Kreta als "neuer Front" bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Dabei ist das Land weit davon entfernt, die Probleme andernorts im Land überhaupt in den Griff zu bekommen.

Auf Lesbos herrschen seit Tagen nahezu chaotische Zustände. Aus dem ehemaligen Registrierungszentrum Moria ist inzwischen ein Abschiebelager geworden, ein hoffnungsloser Ort hinter Betonmauern und Stacheldraht. In der Nacht zu Donnerstag kam es zu heftigen Ausschreitungen. Afghanen und Pakistaner gingen mit Messern und Stangen aufeinander los. Zelte und Schlafsäcke wurden in Brand gesteckt. Die Polizei war überfordert, stundenlang gelang es ihr nicht, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Auslöser war ein Streit ums Aufladen eines Handys.

Ausschreitungen auf Samos

Der Bürgermeister von Lesbos, Spyros Galinos, sorgt sich um seine Insel. Er habe die Regierung gewarnt, dass die Stimmung kippen werde, wenn die Flüchtlinge keine Perspektive mehr hätten. "Sie sind erschöpft", sagte Galinos. Außerhalb der Lager komme es zu Prostitution, weshalb auch in der Bevölkerung die Hilfsbereitschaft schwinde. Auf Samos ist die Lage auch nicht viel besser. Bei Ausschreitungen unter Migranten wurden ebenfalls Dutzende verletzt. Die Unruhen zwangen den Bürgermeister von Samos, ausgerechnet einen Kongress zu den Folgen der Flüchtlingskrise früher zu verlassen. Auf Chios sind Flüchtlinge in einen Hungerstreik getreten - sie wollen, dass ihre Asylverfahren beschleunigt werden. Aber die griechische Asylbehörde kommt gar nicht hinterher, die Anträge abzuarbeiten. Mehr als 50 000 Flüchtlinge sind im Land. Seitdem Griechenland Endstation auf ihrer Reise ist, bemühen sich viele um Asyl. Die durchschnittliche Verfahrenszeit beträgt knapp drei Monate.

Im Norden Griechenlands gibt es jetzt viele "kleine Idomenis", neue Lager an Autobahnen, in der Nähe von Hotels und Tankstellen, in denen die Flüchtlinge aus der ehemaligen Zeltstadt wieder zusammenkommen, weil sie die staatlichen Camps für unerträglich halten. Unter freiem Himmel fühlen sich viele besser aufgehoben als in Obhut des Staates.

© SZ vom 04.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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