Missbrauch durch UN-Soldaten:Was der Krieg mit Kindern macht

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Was macht der Krieg aus Kindern? Ein Junge sitzt in einem Flüchtlingslager in Bangui. (Foto: Pablo Tosco, Oxfam Intermon)

In einem Flüchtlingslager im zentralafrikanischen Bangui sollen UN-Soldaten kleine Jungen sexuell missbraucht haben. Wahrscheinlich passiert das noch immer. Wie konnte es soweit kommen? Besuch in einer zerrütteten Stadt.

Von Isabel Pfaff, Bangui

Schon beim Anflug zeigt sich das Meer aus weißen und grauen Zelten. Der Grünstreifen zwischen Piste und Zeltstadt ist keine hundert Meter breit. M'Poko, das größte Flüchtlingslager in Bangui, der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik, umschließt die Südseite des internationalen Flughafens wie ein riesiges Croissant. Blauhelmsoldaten säumen die Landebahn, mit ihren Gewehrläufen verscheuchen sie Kinder, die dem Rollfeld zu nah kommen. Das Lager hat traurige Berühmtheit erlangt. Die Bilder von Familien, die zwischen Flugzeugwracks ihre Kinder baden, gingen um die Welt.

Seit ein paar Wochen ist M'Poko noch aus einem anderen Grund berühmt: Auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs, der 2013 und 2014 in Zentralafrika tobte und das Land bis heute nicht loslässt, sollen UN-Soldaten, vor allem französische, kleine Jungen sexuell missbraucht haben, in dem Militärcamp gleich neben den Flüchtlingszelten. Die Missbrauchsvorwürfe, die der britische Guardian Ende April veröffentlicht hat, katapultierten die vergessene Krise in Zentralafrika wieder ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit.

Friedenshüter nutzten die Notlage von Frauen oder Kindern aus

Friedenstruppen haben den Auftrag, die Bevölkerung zu schützen. Doch immer wieder werden Fälle sexuellen Missbrauchs durch Blauhelme oder andere Peacekeeper unter UN-Mandat bekannt. Der erste Skandal betraf die UN-Mission in Kambodscha, es ging weiter im ehemaligen Jugoslawien, im Kosovo, Kongo. Überall war das Schema gleich: Die Friedenshüter nutzten die Notlage von Frauen oder Minderjährigen aus, um Sex gegen Essen oder Medikamente zu tauschen. Die meisten Blauhelm-Truppen werden inzwischen von armen oder Schwellenländern gestellt - Staaten, deren Armeen nicht für ihre Disziplin berühmt sind. Jetzt, in der Zentralafrikanischen Republik, stehen auch Franzosen unter Verdacht.

Der Flughafen von Bangui hat in diesem Krieg immer zu den sichersten Orten des Landes gehört. Als Erste bewachten ihn französische Soldaten, als nationale Eingreiftruppe unter UN-Mandat. Dann übernahm Eufor, die Friedensmission der Europäischen Union. Inzwischen sichern UN-Soldaten der Operation Minusca Gelände und Flugverkehr. Bis zu 100 000 Menschen hatten sich zeitweise vor der Gewalt in ihren Vierteln hierher geflüchtet, heute leben noch 18 000 auf dem Areal. Sie fühlten sich beschützt von den internationalen Truppen. Für einige Kinder ein schrecklicher Irrtum, wie es scheint.

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16 Soldaten unter UN-Mandat - elf aus Frankreich, drei aus dem Tschad und zwei aus Äquatorialguinea - sollen 14 Jungen aus M'Poko sexuell missbraucht oder den Missbrauch ermöglicht haben. Der Guardian beruft sich auf einen internen Bericht der Vereinten Nationen, den UN-Ermittler im Sommer 2014 angefertigt und an ihre Vorgesetzten geschickt haben. Die UN taten - nichts. Bis ein schwedischer Mitarbeiter des UN-Kommissariats für Menschenrechte den Report an französischen Behörden weiterleitete - und dafür suspendiert wurde. Paris nahm Ermittlungen auf, im Stillen allerdings. Erst der Guardian brachte die Anschuldigungen an die Öffentlichkeit. Der UN-Report wurde ihm von einer Hilfsorganisation zugespielt.

Er enthält furchtbare Vorwürfe gegen die UN-Soldaten. Das jüngste Opfer war demnach neun Jahre alt, das älteste 15. Die Täter bezahlten mit Keksen, Trinkwasser oder Geld. Sind die Aussagen glaubhaft? Spurensuche in Bangui, einer zerrütteten Stadt, die zeigt, was der Krieg insbesondere mit Kindern gemacht hat.

Die Kämpfe zwischen zwei Milizen haben Tausende zu Waisen gemacht. Der Konflikt zwischen den vorwiegend muslimischen Seleka-Rebellen und der mehrheitlich christlichen Gegenmiliz Anti-Balaka, war vom Machtkampf zum blutigen Krieg der Konfessionen angeschwollen. Im Dezember 2013 wurde die gesamte Stadt in die blutige Schlacht gezogen. In Bangui kamen mindestens 1000 Menschen um, im ganzen Land sollen es weit mehr als 6000 Tote sein. In den Vierteln Banguis hört man Geschichten von Kindern, die ihre Eltern verbrennen sahen, von schwangeren Frauen, denen lebendig der Leib aufgeschnitten wurde.

Bei Nacht fallen die Kriegswaisen auf: schmutzige, kleine Gestalten am Straßenrand, die das Licht der Laternen suchen. Der nächste Checkpoint von Polizei oder Blauhelmen ist meist nicht weit, die Soldaten überwachen die ab 22 Uhr herrschende Sperrstunde. Bis heute herrscht kein Frieden im Land, auch nicht in der Hauptstadt. In einigen Vierteln kommt es jede Woche zu Scharmützeln, Racheakten. Etwa 60 000 Menschen trauen sich deshalb nicht zurück. Sie leben weiter als Vertriebene in der eigenen Stadt, in den knapp 30 Flüchtlingslagern von Bangui.

Dabei sind die hygienischen Zustände katastrophal, auch Nahrungsmittel gibt es kaum. In M'Poko hat die Übergangsregierung Zentralafrikas den Hilfsorganisationen schon Anfang 2014 verboten, Lebensmittel zu verteilen - weil das Lager infiltriert sei von Anti-Balaka-Milizen. Auch in anderen Lagern berichten die Bewohner, dass immer seltener Lastwagen mit Nahrungsmitteln eintreffen. Abgesehen von den Unruhestiftern der Anti-Balaka gibt es dafür noch eine andere Erklärung: Die Welt sieht nicht mehr hin. Mehrere Hilfsorganisationen in Bangui fahren gerade ihre Aktivitäten zurück, weil ihnen das Geld fehlt. Es ist eine einfache Rechnung: Ohne Aufmerksamkeit kein Geld. Und besonders viel Aufmerksamkeit hat Zentralafrika ohnehin nie bekommen.

Die Mehrheit der Beschuldigten: Franzosen

Die Vorwürfe gegen die UN-Soldaten haben das Land nun wieder in den Fokus gerückt - und damit die anhaltende humanitäre Krise, die die Betroffenen in schreckliche Zwangslagen bringt, bis heute. Hungernde Kinder tun viel für ein paar Francs oder Süßigkeiten.

Könnte es also womöglich noch mehr Fälle geben als die im UN-Bericht dokumentierten? Ins Flughafen-Lager kommen Journalisten seit den ersten Berichten über die Missbrauchsvorwürfe nicht mehr hinein. Die französische Hilfsorganisation Première Urgence (PU), die das Lager verwaltet, verweigert den Zugang, auch eine einfache Visite ohne Interviews ist nicht möglich. "Ihnen geht es doch um die Missbräuche", sagt der Missionschef von PU am Telefon. "Da machen wir nicht mit." PU sei von den Anti-Balaka im Lager bedroht worden, hört man von Mitarbeitern anderer NGOs, die Miliz wolle keine Presse in M'Poko. Das ist möglich - ebenso möglich ist aber auch die Abhängigkeit dieser französischen Organisation von ihrer Regierung. Immerhin sind die Mehrheit der Beschuldigten Franzosen.

Auch ohne Zutritt zum Lager verdichten sich in Bangui die Hinweise darauf, dass die 14 interviewten Jungen wohl nicht die einzigen Missbrauchsopfer internationaler Truppen sind. Die erste Spur liefert ein zentralafrikanischer Journalist. Er sitzt im Grand Café an der Avenue Boganda im Zentrum von Bangui. Das Lokal ist beliebt bei den Mitarbeitern der vielen NGOs in Bangui - und bei den ausländischen Soldaten. Der Journalist schaut sich nervös um, während er erzählt. Er arbeitet für den größten privaten Radiosender des Landes, er will lieber nicht erkannt werden.

Missbräuche durch internationale Soldaten seien "eine Realität", sagt er. "Wir haben im Mai 2014 selbst Interviews mit drei Mädchen geführt." Sie seien zwischen 14 und 16 Jahre alt gewesen, erzählt er. Als sie den französischen Soldaten in M'Poko Obst verkaufen wollten, hätten diese sie überredet, in ihr Zelt zu kommen. Gegen Geld hätten sie mit ihnen geschlafen. "Wir konnten die Aussagen nicht verifizieren, deshalb haben wir es nicht gesendet", sagt der Journalist. Sie hätten die Aufnahmen aber an die europäische Militärmission, die Eufor, weitergeleitet. "Doch wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört."

Eine ähnliche Geschichte erzählt Jean-René Nétin. Der ältere Herr arbeitet für das Erzbistum von Bangui. Der Bischof hat im Mai eine Untersuchung der Vorwürfe angeordnet, Nétin leitet die Ermittlungen. Man stehe noch am Anfang, doch er hat ein Protokoll mitgebracht von einem Treffen mit mehreren Zeugen in M'Poko. "Sie haben uns von sechs Kindern berichtet, die zwischen Mai und Juni 2014 von Soldaten der französischen Operation Sangaris missbraucht wurden", erzählt Nétin. Ein Junge von acht Jahren sei zum Oralsex gezwungen worden, mit den etwas älteren Mädchen, die älteste 14, hätten die Franzosen geschlafen. Drei der sechs Kinder stehen mit Namen auf seinem Protokoll. "Wir wollten natürlich auch die Opfer treffen, aber sie leben nicht mehr in M'Poko", sagt Nétin, "sie waren dermaßen stigmatisiert, dass sie sich in andere Lager geflüchtet haben." Man werde aber versuchen, mit den Kindern direkt zu sprechen.

Der alte Mann erwähnt noch ein interessantes Detail: Als die Bewohner von M'Poko die Franzosen zum Teil in flagranti mit den Kindern erwischten, beriefen sie eine Versammlung ein. Mit den Opfern, den Hilfsorganisationen im Lager - und mit Francisco Soriano, dem Chef der französischen Sangaris-Militäroperation. Soriano sei scharf angegriffen worden und habe versprochen, die Vorfälle zu untersuchen. "Letztlich hat er aber nur die Franzosen durch georgische Soldaten ersetzt", sagt Nétin. Wenn die Berichte der Zeugen stimmen, hat zumindest der Chef der französischen Mission früh von dem Problem gewusst. Und nichts unternommen.

Schließlich sind auch Mitarbeiter von Recope, einer lokalen Kinderhilfsorganisation, zu einem Treffen bereit. Diese Gruppe Freiwilliger, die selbst in M'Poko leben, hat im vergangenen Jahr den Stein ins Rollen gebracht: Von ihr stammt der allererste Report über die Missbräuche. "Unser damaliger Präsident stieß aber erst mal auf taube Ohren", erzählt Jonathan Langandi, der Generalsekretär von Recope. Der Präsident habe zunächst die UN-Kinderhilfe Unicef informiert, doch nichts geschah. Dann die zentralafrikanischen Behörden - ohne Reaktion. Schließlich leitete eine der internationalen NGOs in M'Poko den Report an das UN-Kommissariat für Menschenrechte in Genf weiter. Erst dann trafen UN-Ermittler in M'Poko ein und erstellten mit Hilfe von Recope den Bericht, den der Guardian veröffentlicht hat.

"Schlimmer als die Franzosen waren aber die Georgier"

Es gebe bis heute minderjährige Prostituierte in M'Poko, die sich mit den internationalen Soldaten einließen, sagt Langandi. Viele andere hätten das Camp wegen des Stigmas inzwischen verlassen. Insgesamt seien wohl 20 bis 30 Kinder betroffen gewesen, schätzt er, in der Mehrzahl Mädchen. "In Zone 3 des Lagers arbeiten immer noch vier minderjährige Mädchen als Sexarbeiterinnen", sagt Langandi. Ist es möglich, sie zu treffen? "Schwierig. Sie sind ziemlich verängstigt."

Ganz am Ende des Gesprächs sagt ein anderer Recope-Mitarbeiter: "Schlimmer als die Franzosen waren aber die Georgier." Georgien hatte sich, obwohl kein EU-Land, an der Eufor-Mission in der Zentralafrikanischen Republik beteiligt. Von Mai bis November 2014 waren Truppen des Landes am Flughafen stationiert - Recope zufolge haben auch sie Kinder aus dem Lager sexuell missbraucht. Der Mitarbeiter erzählt von einem Georgier, der sich vor aller Augen kleine Jungs in seine Unterkunft geholt habe. Damit steht auch die europäische Eingreiftruppe unter Verdacht.

Langsam laufen die Ermittlungen an. Mehr als ein Jahr, nachdem die ersten Opfer von Missbrauch berichteten. Frankreich hat Anfang Mai ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt eröffnet. Etwa zur gleichen Zeit hat die Staatsanwaltschaft von Bangui eine Untersuchung angekündigt - und Frankreich heftig dafür kritisiert, dass es die zentralafrikanischen Behörden nicht informiert habe. Ein scheinheiliger Vorwurf, glaubt man den Recope-Mitarbeitern, die angeben, die Behörden ihres Landes erfolglos kontaktiert zu haben.

Auch UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat eine externe Kommission eingesetzt, um die Rolle der Vereinten Nationen in der Affäre zu untersuchen. Denn insbesondere hochrangige UN-Mitarbeiter haben die Untersuchung der Vorwürfe und damit den Schutz der Opfer - wissentlich oder nicht - verschleppt.

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