Minderheitsregierungen:Diese Staatschefs müssen ohne breite Rückendeckung auskommen

Minderheitsregierungen: Mark Rutte, Erna Solberg und Marino Rajoy (v.l.n.r.) regieren oder regierten ihre Länder ohne politische Mehrheit.

Mark Rutte, Erna Solberg und Marino Rajoy (v.l.n.r.) regieren oder regierten ihre Länder ohne politische Mehrheit.

(Foto: AFP(2); AP)
  • Mehrere europäische Länder werden von Minderheitsregierungen geführt.
  • In Skandinavien sind solche Regierungen sogar üblich, Oppositionsparteien funktionieren dort wie feste Partner.
  • In den Niederlanden hatte die Minderheitsregierung unter Mark Rutte keinen langfristigen Erfolg.
  • In Spanien erschwert die regionale Zersplitterung das Zusammenfinden einer Mehrheitsregierung.

Von Silke Bigalke, Thomas Kirchner, Thomas Urban und Sebastian Schoepp

Für die Norwegerin Erna Solberg hat sich der Traum von der stabilen Mehrheit wieder nicht erfüllt. Im September wurde in ihrem Land gewählt. Die Premierministerin hätte die konservativen Parteien danach gerne zu einer Koalition überredet. Doch zwei der Partner sträuben sich noch vehementer als vor vier Jahren, und Erna Solbergs Minderheitsregierung ist nun wackeliger als vor der jüngsten Abstimmung. Von Neuwahlen ist in Norwegen trotzdem keine Rede. Solberg kann einfach weiterregieren, solange sich im Parlament keine Mehrheit gegen sie festsetzt.

Minderheitsregierungen sind üblich in Skandinavien. Sie funktionieren, indem sie für jedes ihrer Projekte Unterstützung in der Opposition suchen. Das klingt flexibler, als es meistens ist: Meist fungieren bestimmte Oppositionsparteien wie feste Partner. Manche dieser an sich losen Vereinbarungen erinnern fast an Koalitionsverträge, geben der Regierung Stabilität, machen sie aber auch abhängig und mitunter erpressbar.

Kompromiss als Wert an sich

Trotzdem hat das Konzept auch Stärken: Der Kompromiss gilt im Norden Europas nicht als faul, sondern als gut und notwendig, der Konsens als erstrebenswert. Die Parteien in ganz Skandinavien sind eher bereit, sich zu bewegen und größere Abstriche zu ertragen.

Allerdings waren Minderheitsregierungen auch im Norden früher effektiver. Vor Jahren gab es weniger Fraktionen, meist stellte eine starke Partei allein die Regierung. Oft waren das die Sozialdemokraten, die sich dann wechselnde Partner aus der Opposition erwählten. Heute ist dafür kaum eine Partei im Norden mehr groß genug. In Norwegen, Dänemark und Schweden regieren Minderheits-Koalitionen. In Dänemark besteht diese sogar aus drei Parteien, die selbst gemeinsam keine Mehrheit haben. Das macht sie so schwach, dass die rechtsgerichtete Dänische Volkspartei sie von der Oppositionsbank aus vor sich hertreibt.

In Schweden ist 2014 gleich der erste Haushaltsentwurf der Regierung im Parlament durchgefallen. Weil ein Vorschlag der Opposition mehr Stimmen bekam, stand Premierminister Stefan Löfven vor der Wahl: Entweder zurücktreten oder ein Jahr lang dem Finanzplan der Opposition folgen. Der Sozialdemokrat Löfven blieb, um Neuwahlen zu vermeiden - ein Riesenkompromiss auf skandinavische Art.

Turbulentes Intermezzo in den Niederlanden

Die Niederlande haben in jüngerer Vergangenheit eine Erfahrung mit einer Minderheitsregierung gemacht, die turbulent verlief. Sie betraf das erste Kabinett, das Ministerpräsident Mark Rutte 2010 bildete. Die zuvor regierenden Christdemokraten (CDA) hatten bei der Wahl schwer an Stimmen verloren, Ruttes Rechtsliberale (VVD) wurden stärkste Partei. Für eine Koalition mit der CDA reichte es aber nicht. Gleichzeitig schnitt die nationalpopulistische Freiheitspartei (PVV) von Geert Wilders sensationell gut ab, mit 24 statt bisher neun Abgeordneten landete sie auf Platz drei.

Nachdem andere Formationen gescheitert waren, blieb ein Weg übrig: ein liberal-christliches Minderheitskabinett, das sich von Wilders "dulden" ließ. Vor allem bei den Christdemokraten gab es enorme Vorbehalte gegen diese Konstruktion. Viele befürchteten, so mache man den radikalen Islamkritiker hoffähig. Wilders hingegen erschien die Aussicht, die Regierungspolitik in Teilen mitbestimmen zu können, ohne echte Verantwortung tragen zu müssen, zunächst als verlockend. Er stand auf einem ersten Höhepunkt seiner Karriere. Am Ende ließ sich der CDA auf einen Koalitionsvertrag mit Ruttes Liberalen ein, der durch einen Duldungsvertrag mit der PVV ergänzt wurde. Wilders gelobte, das Kabinett zu unterstützen und auf besonders extreme Forderungen zu verzichten.

Obwohl es nur eine Mehrheit von einer Stimme hatte, funktionierte das Dreierbündnis eine Weile - bis die Euro-Krise zuschlug. 2012 sollten 18 Milliarden Euro eingespart werden. Mitten in den Gesprächen über einen "Frühlingspakt" kündigte Wilders die Duldung auf, wohl aus Angst, die Quittung für die Kürzungen zu erhalten. Bei der folgenden Neuwahl verlor seine PVV ein Drittel der Sitze.

Iberische Kleinteiligkeit

Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy kann sich im Parlament von Madrid nur auf 137 Abgeordnete der eigenen konservativen Partei (PP) stützen. 350 Parlamentarier sitzen insgesamt in den Cortes. Seine Regierung wird geduldet von den Liberalen und der Baskischen Nationalpartei, die ihm gemeinsam geholfen haben, seinen Haushaltsentwurf durch das Parlament zu bringen. Doch wegen seines Kurses in der Katalonien-Krise hat Rajoy die Unterstützung der konservativen Basken verloren. Neuwahlen dürften unausweichlich sein, allerdings dürften breite Mehrheiten der Vergangenheit angehören.

Dazu trägt die regionale Zersplitterung bei. 49 der 350 Sitze im Parlament nehmen Regionalparteien ein. Die Kleinteiligkeit ist deswegen problematisch, weil das Land tief greifende Reformen nötig hätte, um die Krise zu überwinden. Diese dürften auch mit künftigen Minderheitskabinetten schwer durchsetzbar sein. Hartes Verhandeln gehört zum Alltag in Spanien. Mariano Rajoy hat sich darin bislang trotz seiner notorischen Sturheit als nicht ungeschickt erwiesen; so sicherte er sich die Unterstützung der Sozialisten für seinen harten Kurs gegen katalanische Separatisten.

Portugals Regierungschef regiert geräuschlos

Minderheitsregierungen hatte es in Spanien früher schon gegeben. Der Sozialist José Luis Rodríguez Zapatero regierte fast zwei Legislaturperioden ohne absolute Mehrheit. 2011 schaffte er es trotzdem, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die die Grundlage für die Umsetzung des von Brüssel verlangten Sparkurses legte - und Zapateros politisches Ende einleitete.

Auch im Nachbarland Portugal regiert der Sozialist António Costa mit einem Minderheitskabinett, seine Partei stellt nur 86 von 230 Abgeordneten und nicht mal die stärkste Fraktion. Er wird unterstützt von linken und linksalternativen Gruppen, was anfangs von Brüssel kritisch beäugt wurde. Tatsächlich aber regiert Costa weitgehend geräuschlos - und nicht ohne Erfolg. Das Euro-Krisenland Portugal befindet sich auf Erholungskurs.

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