Minarettverbot in der Schweiz:Angriff auf Europa

Wer über das Grundrecht der Religionsfreiheit abstimmen lässt, greift nicht nur Minderheiten an, sondern europäische Werte. Hassprediger müssen also keine Islamisten sein.

Navid Kermani

Der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani ist Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Zuletzt erschien von ihm "Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime" (C. H. Beck)

Minarettverbot in der Schweiz: Für Autor Navid Kermani steht die Schweiz mit ihrem Minarettverbot an einem Scheideweg.

Für Autor Navid Kermani steht die Schweiz mit ihrem Minarettverbot an einem Scheideweg.

(Foto: Foto: dpa)

Wenn irgendein politisches Gebilde auf der Welt außer den Vereinigten Staaten von Amerika religiösen und ethnischen Minderheiten eine gleichberechtigte Teilhabe in Aussicht stellt, dann ist das ein vereinigtes Europa.

Anders als der Nationalstaat bezeichnet Europa im emphatischen Sinne einen Wertekanon, zu dem man sich unabhängig von seiner Nation, Rasse, Religion oder Kultur bekennt oder eben nicht bekennt. Das hebt Unterschiede nicht auf, im Gegenteil. Europa ist gerade kein erweiterter Nationalstaat, sondern ein Modus, Unterschiede politisch zu entschärfen, um sie zu bewahren. Wer zu dem europäischen "Wir" gehört, entscheidet nicht der Geburtsort der Großeltern, sondern die Vorstellung von der Gegenwart.

Der schwerwiegendste Tabubruch

Die Schweizer Volksabstimmung zum Verbot von Minaretten ist in mehrfacher Hinsicht ein Bruch mit zentralen Prinzipien dieses europäischen Projekts als einer säkularen, transnationalen, multireligiösen und multiethnischen Willensgemeinschaft, wie es aus der Aufklärung und der Französischen Revolution erwachsen ist.

Dass der neue Passus in der Schweizer Verfassung das Recht auf freie Ausübung der Religion verletzt, ist in den vergangenen Tagen oft geschrieben worden. Ebenso wurde festgehalten, dass das Minarettverbot eine bestimmte Glaubensgemeinschaft diskriminiert und damit dem Gleichheitsgebot des europäischen Wertekanons entgegensteht.

Seltener hingegen kam der schwerwiegendste Tabubruch zur Sprache, den die Volksabstimmung unabhängig von ihrem Ergebnis darstellt: Dass Grundrechte, noch dazu die Grundrechte einer Minderheit, in einer demokratischen Abstimmung zur Disposition gestellt werden und damit keine Grundrechte mehr sind.

Nun gehört es zum Wesen von Tabus, dass sie in die Versuchung führen, sie zu brechen. Erst wenn der Tabubruch nicht mehr als solcher benannt und damit inkriminiert wird, ist er gesellschaftlich vollzogen. Umso fataler sind die um Verständnis werbenden Reaktionen vieler europäischer Regierungsvertreter. Wer jetzt beschwichtigt, provoziert erst recht einen Sturm.

Mit den gleichen Argumenten, die für das Minarettverbot angeführt worden sind, wird man alle anderen Formen islamischer Präsenz im öffentlichen Raum verbieten können.

Attacke auf das europäische Projekt

Das betrifft nicht nur Muslime, es betrifft alle Europäer. Die Rechtspopulisten und ihre ehemals liberalen, nun neokonservativ gewendeten Wegbereiter in den Medien, die auch in Deutschland mit dem Furor von Konvertiten auftreten, attackieren zwar den Islam, zielen aber auf das europäische Projekt. Nicht zufällig sind sie durchweg Skeptiker, wenn nicht Gegner des europäischen Einigungsprozesses, und sind ihre ökonomischen Vorstellungen neoliberal, damit also auch gegen das soziale Vermächtnis der europäischen Gründerväter und -mütter gerichtet.

Man hat vor der Schweizer Volksabstimmung in vielen europäischen Ländern eine Diskussion über die Probleme der Integration, den Islam und die Gleichberechtigung speziell in muslimischen Einwanderermilieus geführt, und man wird sie nach der Volksabstimmung weiter führen.

Wo immer Muslime eine Moschee bauen, wo sie ihren Glauben öffentlich artikulieren oder praktizieren wollen, sind sie dieser Diskussion ausgesetzt. Das ist nicht immer angenehm für sie und mag auch nicht immer fair zugehen, aber es ist unvermeidlich in einem Gemeinwesen, das der freien Meinungsäußerung aus guten Gründen sehr, sehr weite Grenzen setzt.

Diskussion war überfällig

Die Demographie der westeuropäischen Gesellschaften hat sich innerhalb einer einzigen Generation massiv, historisch vielleicht sogar beispiellos verändert. Weil die realen oder auch nur die vorgestellten Konflikte, die damit einhergingen, nicht thematisiert, weil keine Anforderungen an die Einwanderer formuliert, keine Integrationsbereitschaft bei der Mehrheitsgesellschaft geweckt wurden, trifft diese Diskussion den Kontinent heute mit umso größerer Wucht. Sie ist Teil eines notwendigen Gewöhnungs- und kulturellen Angleichungsprozesses, der Jahrzehnte zu spät einsetzt.

Es kann also nicht darum gehen, Sprechverbote zu verhängen oder bestimmte Probleme zu tabuisieren, die zu Recht oder zu Unrecht mit dem Islam assoziiert werden. Voraussetzung allerdings ist, dass die Debatte auf der Grundlage und im Rahmen des europäischen Wertekanons geführt wird, wie er in den Verfassungen der meisten europäischen Länder und der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt ist. Deshalb ist auch der ständige Vergleich mit der Situation religiöser Minderheiten in islamischen Ländern, der zur Rechtfertigung des Schweizer Votums herangezogen wird, eine Selbstentwürdigung, ja ein kultureller und moralischer Offenbarungseid.

Just die Religionsfreiheit, die in Europa bei allen Defiziten doch heute eher verwirklicht ist als in den meisten anderen Teilen der Welt, war und ist eines der Charakteristika, durch das Europa sich von Ländern wie der Islamischen Republik Iran und Saudi-Arabien unterscheidet, und weshalb die Türkei zum jetzigen Zeitpunkt eben noch nicht europäisch ist.

Der Fundamentalismus, gegen den sich die Minarettgegner vorgeblich wenden, hätte gesiegt, wenn Europa selbst fundamentalistisch würde.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die Schweiz staatsrechtlich am Scheideweg steht.

Europarat wird Minarettverbot nicht akzeptieren

Nun verfügt auch die Schweiz - in deren Verfassung die unverhandelbaren Grundrechte anders als im deutschen Grundgesetz nicht eigens aufgeführt werden und die auch kein Verfassungsgericht kennt - über einen Sicherungsmechanismus, mit dem sich alle Demokratien vor undemokratischen Entscheidungen schützen, und zwar in Gestalt des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Dessen Gerichtsbarkeit hat sich das Land freiwillig unterworfen, in dem es die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieb.

Minarett, Istanbul, dpa

In Istanbul gehören Minarette zum Stadtbild. In der Schweiz stören sie offenbar viele, zu viele.

(Foto: Foto:dpa)

Nach allem, was Juristen in diesen Tagen sagen oder schreiben, werden die Deutungen des Minaretts als entweder rein politischem oder gar nicht originär islamischem Symbol, welche die Verbotsbefürworter anführen, um die Verletzung des Rechts auf freie Religionsausübung zu kaschieren, in Straßburg keinen Bestand haben.

Staatsrechtlich am Scheideweg

Nach dem absehbaren Urteil des Menschengerichtshofs stünde die Schweiz dann auch staatsrechtlich an dem Scheideweg, an dem sie gesellschaftlich jetzt schon angelangt ist: Akzeptiert sie es oder tritt sie aus dem Europarat aus, und damit aus der Gemeinschaft, die ideengeschichtlich das Erbe der Aufklärung vertritt.

Gleichwohl wäre es abwegig, sich mit der Aussicht auf Straßburg zu beruhigen. Wird der Konflikt, der zwischen der Manifestation eines Mehrheitswillen und den Grundrechten einer Minderheit entstanden ist, rein juristisch gelöst, kehrt er politisch umso schärfer wieder - dann in Gestalt von rechtspopulistischen Parteien, die bei Wahlen nicht mehr nur ein Drittel der Stimmen, sondern sogar Mehrheiten gewinnen.

Anders gesagt: Wer darauf beharrt, dass Grundrechte im demokratischen Prozess nicht zur Disposition gestellt werden dürfen, sollte dennoch alles dafür tun, damit sie jederzeit eine Mehrheit fänden. Löst sich der gesellschaftliche Grundkonsens dauerhaft auf, werden ihn Gerichte nicht mehr kitten können.

Viel ist in diesen Tagen davon die Rede, dass man die Ängste der Bevölkerung vor dem Islam ernst nehmen sollte. Das ist einerseits immer richtig, vernebelt aber im speziellen Fall des Minarettvotums, dass diese Ängste in einer aufwendigen Kampagne gezielt geschürt worden sind. Nur so wird erklärlich, warum sie gerade dort besonders ausgeprägt sind, wo am wenigsten Muslime leben, also in den ländlichen, aber auch in manchen wohlhabenden großbürgerlichen Gegenden.

Und wenn wir schon bei Ängsten sind: Es ist bezeichnend, dass kaum ein europäischer Staatsführer auch nur mit einem Wort die Ängste jener thematisiert hat, die in einem europäischen Land soeben zu Bürgern zweiter Klasse gestempelt worden sind. Mit welchen Werbebroschüren und auf welchen Integrationsgipfeln möchte man sie künftig davon überzeugen, sich als Teil der europäischen Gesellschaften zu begreifen?

Bildersprache des Stürmers

Wenn die größte und dank ihres Vormanns auch finanzstärkste Partei der Schweiz mit Plakaten wirbt, die die Bildersprache des Stürmers explizit aufgreifen, wenn sie auf ihre offizielle Internetseite ein Online-Spiel stellt, bei dem man Imame abschießen kann, wenn ehemals liberale Blätter die Argumentationsstruktur und manche Stereotypen der nationalsozialistischen Propaganda auf Muslime anwenden, wird klar, dass nicht nur der Islam ein Problem mit Hasspredigern hat.

Die westliche Spielart des Fundamentalismus als einer kulturellen statt religiösen oder ethnischen Ideologisierung ist zu einer innereuropäischen Herausforderung geworden, wie das Erstarken rechtspopulistischer Parteien auch in Ländern wie Österreich, Italien, Dänemark oder den Niederlanden zeigt.

In all den Ländern wird die Auseinandersetzung mit diesen Parteien und den Publizisten, die ihnen medial den Weg bereiten, defensiv geführt. Die traditionellen und speziell die konservativen Parteien spielen die Gefahren, die von dieser Strömung für das europäische Projekt ausgehen, herunter, übernehmen nach und nach deren Rhetorik und binden sie in vielen Fällen sogar in die Regierung ein. In keinem einzigen Fall ist die Rechnung aufgegangen, dass sich die Rechtspopulisten dadurch mäßigen oder sich ihre Wählerschaft dadurch verringert.

Hingegen blieb der Vormarsch der Rechtspopulisten genau in jenen Ländern bislang aus, die sich seit einigen Jahren bemühen, die Integration endlich politisch zu gestalten, statt deren Verwerfungen populistisch auszuschlachten. In Schweden, Spanien oder Deutschland herrscht bei allem notwendigen Streit über die konkrete Ausgestaltung ein grundsätzlicher Konsens zwischen den etablierten Parteien, Migranten in das Gemeinwesen einzubeziehen, statt sie mit Blick auf vermeintliche Abstimmungsergebnisse auszugrenzen.

Es ist offensichtlich und durchaus an Wahlurnen vermittelbar, dass soziale und kulturelle Konflikte nicht durch Verbote und Diskriminierungen gelöst werden können, die eben jene Parallelgesellschaften schaffen, an denen Anstoß genommen wird.

Probleme im Konkreten bewältigen

Die Sorgen vor Überfremdung ernst zu nehmen, kann deshalb nicht bedeuten, den Rechtspopulisten in vorauseilendem Gehorsam Genüge zu tun und das Fremde per Gesetz unsichtbar zu machen. Vielmehr gilt es, die Ängste abzubauen, indem man realistischere Perspektiven aufzeigt und die Probleme im Konkreten bewältigt, mit Sprachförderung schon in den Kindergärten, Frauenhäusern, massiven Investitionen in die Bildung, Maßnahmen gegen Ghettoisierungstendenzen in den Städten oder der Ausbildung von Imamen vor Ort, um nur wenige Beispiele zu nennen.

Auch die Instrumentarien des Baurechts spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Sie können für die Einbettung bislang ungewohnter Sakralbauten in ihre Umgebung sorgen, die nicht nur durch möglichst unscheinbare Gebäude, sondern überzeugender mit einer ästhetisch besonders ansprechenden, zeitgenössisch-islamischen Architektur gelingen kann, die die europäische Formensprache aufgreift und erweitert.

Vor allem aber wird man, um den europäischen Gesellschaftsvertrag eine Generation nach der historischen Einwanderungswelle der fünfziger und sechziger Jahre zu erneuern, Überzeugungsarbeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen leisten müssen, in den Schulen, Medien, Parteien, Behörden, Fabriken, Kirchen, Moscheen, Vereinen und Familien. Früher hätte man es auch Aufklärung genannt.

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