Migranten im Mittelmeer:EU-Innenminister unterstützen Regelwerk für Flüchtlingsretter

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Die Migranten waren auf einem Gummiboot unterwegs, als Helfer der privaten Hilfsorganisation MOAS sie im Juni retteten. (Foto: Chris McGrath/Getty Images)
  • Das Treffen der EU-Innenminister in Tallinn geriet zum Italien-Besänftigungs-Treffen: Das Mittelmeerland fühlt sich in der Flüchtlingsfrage alleingelassen.
  • Eilig stimmten die anderen Staaten deshalb einem von Italien geforderten Verhaltenskodex für Flüchtlingsretter zu.
  • Der Vorschlag, Migranten künftig auch nach Spanien und Frankreich zu bringen, fand hingegen keine Zustimmung.

Von Thomas Kirchner, Tallinn

"Informell" werden jene EU-Zusammenkünfte genannt, bei denen in Ruhe über Grundsatzfragen und hartnäckige Probleme geredet werden soll. Was die Innenminister betrifft, sind das die Reform des Asylsystems und die Kooperation mit Afrika. Doch in Tallinn kam am Donnerstag, wie so oft, die Aktualität dazwischen. Das Treffen im kühlen Nordosten der EU geriet zum Italien-Besänftigungs-Treffen. Die Regierung in Rom hatte um Hilfe gerufen, und sie erhielt eine Reaktion.

Ob sich nun substanziell etwas ändert an der europäischen Südgrenze, ist offen. Die EU-Partner wollen sichtlich ein Zeichen setzen, dass sie den Staat, in dem derzeit 95 Prozent der Migranten landen und das immer für einen humanen Ansatz in der Krise gestanden hat, nicht alleinlassen. Zwar war auch die Ansicht zu hören, die Situation sei gar nicht so schlimm, wie Italien sie darstelle. Und es könne sich bei den Abschiebungen durchaus mehr anstrengen. Dennoch begrüßten alle den eilig entworfenen Aktionsplan der EU-Kommission. Er enthält neben einer Geldzusage an Rom viele Versprechen und Aufrufe. Alles, was zur Lösung der Flüchtlingskrise geplant ist, soll schneller und intensiver gemacht werden.

Lichtsignale und Telefonkontakt zu Schleppern soll verboten werden

Wichtiger für Italiens Regierung: Alle billigten den von ihr entworfenen Kodex, der das Verhalten der NGOs im Mittelmeer regulieren soll. Die Organisationen übernehmen ein Drittel der Rettungseinsätze vor der libyschen Küste; Italien und andere EU-Staaten werfen ihnen vor, das Geschäft der Schlepper zu erleichtern und damit noch mehr Flüchtlinge nach Europa zu locken.

Der Kodex umfasst elf Punkte: Unter anderem sollen NGOs nicht mehr in libysche Gewässer fahren dürfen, außer es ist Gefahr im Verzug. Die Transponder zur Identifizierung von Schiffen dürfen nicht abgeschaltet werden. Lichtsignale oder Telefonkontakte, um Schmugglern den Weg zu Rettungsbooten zu weisen, werden ebenso verboten wie die Übergabe von Geretteten an andere Schiffe, mit denen sich die NGOs bisher den langen Weg zu italienischen Häfen ersparten und rasch weitere Migranten aufnehmen konnten. Außerdem dürfen die Organisationen die libysche Küstenwache nicht behindern, müssen die Polizei an Bord lassen, Personal und Finanzierung offenlegen und überhaupt alle Informationen preisgeben, die Beweis für eine "illegale Handlung" sein könnten.

NGO Sea-Eye fürchtet "Todesurteil für Tausende Flüchtlinge"

Bisher existiert das Regelwerk nur als Entwurf, demnächst soll es mit NGO-Vertretern besprochen werden, auch die EU-Kommission will sich einbringen. Würde es Realität, veränderte es die Praxis der Seerettung vor Libyen gravierend. Das Entscheidende kommt zum Schluss: Wer nicht unterschreibt oder gegen den Kodex verstößt, dem darf Italien den Zugang zu seinen Häfen verweigern, "im Einklang mit bestehenden internationalen Konventionen". Diese Drohung zielt vor allem auf die privaten Retter. Sie halten den gesamten Kodex und vor allem eine solche Aufnahmeverweigerung für unvereinbar mit dem Seerecht. "Wir sehen uns vor dem italienischen Verfassungsgericht", sagt Ruben Neugebauer von der deutschen Organisation Sea-Watch.

Auch EU-Diplomaten bezweifeln, dass sich das durchsetzen lässt. Der Kodex bedeute ein "Todesurteil für Tausende Flüchtlinge", kritisierte ein Vertreter von Sea-Eye. Er verwahrte sich auch gegen den Vorwurf, man behindere die libysche Küstenwache. In Wahrheit werde man selbst beschossen und bedroht von den libyschen Beamten, die mit den Schleppern kooperierten. Amnesty International wies am Donnerstag in einem Bericht die Grundlogik des Kodex zurück. Im Gegenteil, da die Qualität der Boote immer schlechter werde, müssten die NGOs sie "sofort nach dem Ablegen" an der libyschen Küste retten.

Italiens Innenminister Marco Minniti will aber noch mehr. Er schlägt vor, dass Schiffe, die im Rahmen der EU-Operation Triton im Mittelmeer Leben retten, Migranten künftig auch in andere Länder als Italien bringen, etwa nach Frankreich oder Spanien. Diesem Ansinnen, das auch die Kommission zur Diskussion stellen will, erteilten die Kollegen eine eindeutige Absage. "Das unterstützen wir nicht", sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Minniti räumte den Widerstand ein, zeigte sich aber insgesamt mit der Unterstützung zufrieden.

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Zumal ein italienisches Lieblingsprojekt, die Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Transitstaaten, auch in Tallinn wieder viel Raum einnahm. Mit massiver EU-Hilfe soll Libyen an der Südgrenze abgeriegelt und an der Küste in die Lage versetzt werden, Migranten selbst zu "retten", besser: abzufangen, und an die eigene Küste zurückzubringen, wo sie unmittelbar in Haftlager überführt werden.

10 000 Migranten soll die Küstenwache laut verschiedenen Quellen schon zurückgebracht haben. Wie ein EU-Diplomat bestätigte, wird erwogen, ihre derzeit 24 Seemeilen umfassende Operationszone auszuweiten.

Außerdem soll Libyen ein Seenotrettungszentrum erhalten. Und für den Fall, dass es zu Ausweichbewegungen kommen sollte, ermuntern die Innenminister auch Tunesien und Ägypten, künftig Migranten schon vor der eigenen Küste abzufangen, damit sie gar nicht erst nach Europa gelangen können. Problematisch ist, was danach mit den Migranten geschieht. In Libyen existieren keine sicheren Orte für sie. Internationale Organisationen wie UNHCR und IOM haben wiederholt auf die unmenschlichen Zustände in den Lagern hingewiesen. Es gebe Hunderte davon, über die meisten habe die Einheitsregierung keine Kontrolle, sie seien in der Hand von Milizen oder Schmugglern. Nur zu etwa der Hälfte der Lager hat das UNHCR nach eigener Aussage Zutritt, reden darf es nur mit Migranten aus sieben Nationen, die Libyen als Flüchtlinge anerkennt.

Und das Asylsystem? Die ungelöste, wichtige Frage der Solidarität? Dieser Streit wurde ein weiteres Mal vertagt in Tallinn. Es gab genügend anderes zu lösen.

© SZ vom 07.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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