Mexiko:Wenn die Erde tobt

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Längst muss erdbebensicher gebaut werden, jedes Jahr finden Übungen statt. In Mexiko sitzt die Angst vor dem nächsten Beben tief. Die Stärke der jüngsten Erdstöße aber hat viele überrascht.

Von Peter Burghardt, Felicitas Kock und Beate Wild

Erdbeben
:Wenn in Mexiko die Erde wackelt

Das Land ist besonders anfällig für Stöße aus der Tiefe

Der Boden bäumte sich auf wie ein wildes Tier, dann zerfiel auch dieses Bauwerk zu Schutt. Das Colegio Enrique Rébsamen im Süden von Mexiko-Stadt. Eine Schule. Einfach eingestürzt. Ein Albtraum. Es geschah am helllichten Tag, am Dienstagmittag, als die Erde in Mexikos zentralem Hochland zu beben begann. Sekunden nur. Doch sie reichten, um zahllose Gebäude in Mexikos Hauptstadt schwer zu beschädigen - oder ganz zu zerstören. Vom vierstöckigen Colegio Enrique Rébsamen blieb nur ein Berg von Schutt.

Mehr als 220 Menschen haben ihr Leben verloren, als Stöße der Stärke 7,1 am Dienstag Mexikos Herzland erschütterten. Vermutlich wird die Zahl der Opfer noch steigen, in den ersten Tagen nach einem Beben ist das ganze Ausmaß der Verwüstung kaum abzuschätzen. Mindestens 21 Schüler und vier Lehrer wurden allein aus den Trümmer des Colegio Enrique Rébsamen, einer Schule mit Kindergarten, tot geborgen. Andere wie den kleinen Víctor konnten Soldaten lebend aus dem Geröll ziehen. Noch am Tag danach ging die Suche dort und anderswo nach den Vermissten weiter. "Dios mío", riefen verzweifelte Mütter und Väter vor den Trümmern, mein Gott, "warum?"

Es war, als wiederholte sich die Geschichte zu einem zynischem Termin. Der 19. September, ausgerechnet. Konnte das wahr sein? Am 19. September 1985 hatte Mexiko-Stadt das schlimmste Erdbeben seiner Historie erlebt, Stärke 8,1. Tausende bis Zehntausende verloren ihr Leben. Bis heute sind vereinzelte Narben der Tragödie von damals in Mauern und Asphalt zu erkennen. Exakt 32 Jahre danach fand am Dienstagmorgen eine Evakuierungsübung für den erneuten Fall der Fälle statt, eine Routineübung, wie üblich am Jahrestag der Tragödie. Zwei Stunden später bebte, ausgerechnet an diesem 19. September 2017, die Erde dann tatsächlich wieder, und das mit einer katastrophalen Wucht.

Ein Beben dauert meist nur Sekunden, nicht einmal eine Minute

Das Epizentrum lag diesmal nicht vor der mexikanischen Küste unter dem Pazifik wie seinerzeit und wie erst kürzlich, als es vor allem die südliche Region Oaxaca traf. Sondern tief im Land, nahe den Städten Puebla und Cuernavaca und aktiven Vulkane wie dem berühmten Popocatapétl. Das ist in gefährlicher Nähe von Mexiko-Stadt, diesem urbanen Experiment mit seinen 25 Millionen Einwohnern.

Ciudad de México, wie sie auf Spanisch heißt, entstand nach der Eroberung durch die Konquistadoren auf den Trümmern der zerstörten Azteken-Metropole Tenochtitlán - auf dem Boden eines weitgehend ausgetrockneten Sees. Der Untergrund ist weich, weshalb diverse Bauwerke auch ohne Beben immer weiter absinken (siehe nebenstehenden Bericht). Die Kathedrale am Hauptplatz Zócalo zum Beispiel musste gestützt werden. Inzwischen wird, wenn es sich um genehmigte Bauten handelt, möglichst erdbebensicher gebaut, die Fundamente reichen oft genauso weit in die Tiefe wie die Konstruktionen in die Höhe. Modernste Anlagen geraten in Schwingung, doch sie zerbersten in der Regel nicht. Auch wird in jedem öffentlichen Gebäude oder Hotel auf das richtige Verhalten bei einem "sismo" alias "terremoto" alias "temblor" hingewiesen: weg von Fenstern und Wänden, Zigarette aus und so weiter. Außerdem besitzt Mexiko einen erprobten Katastrophenschutz. Viele Bauten allerdings sind alt, fragil oder Ergebnis von Wildwuchs und Korruption. Ohnehin können einer solchen Kraft der Natur unmöglich alle Dächer und Mauern standhalten.

Wer jemals die tobende Erde erlebt hat, der weiß, wie surreal sich die Zeit in solchen Augenblicken in die Länge zieht. Wenn auf einmal die Welt schwankt, als wäre sie auf Wogen. Das dauert nur einige Sekunden, eine Minute vielleicht. Mexiko wird jedes Jahr von Tausenden kleinerer Erschütterungen heimgesucht, häufig kaum spürbar. Man kann das nicht vorhersagen wie Starkregen oder einen Hurrikan. Dieses Beben war so heftig, dass nicht jeder reagieren konnte.

"Ich dachte, draußen würde ein schwerer Lastwagen vorbeifahren."

Nachbarn oder Fernsehzuschauer konnten live dabei zusehen, wie mehrstöckige Gebäude in sich zusammensackten. Besonders betroffen waren beliebte Viertel wie die Colonia Roma und die Colonia Condesa. Ihre besten Reviere sind hip wie der Prenzlauer Berg, aber geologisch instabil. "Es hat ganz leicht angefangen", berichtet eine junge Deutsche, die mit ihrem Freund in einem Apartment der Colonia Roma vor dem Laptop saß. "Ich dachte, draußen würde ein schwerer Lastwagen vorbeifahren." Erdbeben waren ihr anders als ihrem mexikanischen Lebensgefährten eher fremd. Dessen Vater wurde an diesem Unglückstag 70 und hat an seinem Geburtstag am 19. September jetzt schon zwei Horrorbeben überstanden. Von der Terrasse aus also sahen sie das Haus gegenüber in eine riesige Staubwolke sinken. "Der Boden, die Häuser, einfach alles war in Bewegung", sagt sie. "Irgendwann dachte ich, das war's jetzt. Ich dachte, die ganze Stadt würde um uns herum einstürzen."

Sie flohen nach draußen, als es vorbei war, trafen weinende Nachbarn, rochen Gas. Explosionen wegen zerrissener Leitungen gehören zu den Gefahren danach, das Risiko von Nachbeben zehrt ebenfalls an den Nerven. Rauch stieg aus dem Betonmeer von Mexiko-Stadt auf. Gleichzeitig ist Mexiko so vertraut mit Erdbeben, dass Bürger und Behörden schnell helfen. Das Protokoll wird umgesetzt, mit Rettungsteams und Schutzzonen. Krankenhäuser und Gefängnisse wurden evakuiert. Der ansonsten schwer unbeliebte Staatspräsident Enrique Peña Nieto wandte sich noch aus dem Flugzeug an die Nation, er war auf dem Weg nach Oaxaca umgedreht.

Vieles ist moderner und professioneller als 1985. Dank sozialer Netzwerke und Livesendungen machen Meldungen schnell die Runde, wobei nicht jede Nachricht stimmt. Freunde und Verwandte schickten einander auf Smartphones Entwarnungen: "Wir sind ok. Die Stadt ist ein Chaos. Ich bin super erschrocken." Sogar eingeklemmte Überlebende machten via Whatsapp auf sich aufmerksam. Besteht irgendwo Hoffnung, dann heben Retter die Faust, bitten Passanten um "silencio", Ruhe, und horchen nach Lebenszeichen.

In den Resten des Colegio Enrique Rébsamen wurde am Mittwoch noch nach 30 verschütteten Kindern gesucht.

© SZ vom 21.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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