Merkel vor der Kür:Annähern an die Größe der Aufgabe

Heute bestimmt die Union offiziell, wer als Kanzlerkandidat gegen Gerhard Schröder antreten soll. Und Angela Merkel setzt sich nun mit der realen Möglichkeit auseinander, Bundeskanzlerin zu werden.

Von Evelyn Roll

Eine dunkle Limousine fährt über die Autobahn aus Vielank in Mecklenburg-Vorpommern zurück Richtung Hauptstadt. Im Fond sitzt Angela Merkel, die Frau, die 15 Jahre nach der Wende plötzlich gute Chancen hat, die erste Frau der Geschichte zu werden, die Deutschland regiert.

Merkel, dpa

Die Kandidatin: Angela Merkel.

(Foto: Foto: dpa)

Die Frau im Fond telefoniert. Sie spricht sehr ruhig. Sie wirkt heiter und konzentriert. Es ist Freitagabend, Ende der erstaunlichsten Woche, die das politische Berlin seit dem Umzug aus Bonn erlebt hat.

Am Wochenende will sie deswegen ein wenig ausruhen, sich sammeln und noch einmal über alles nachdenken. Spätestens Sonntag wird das Tempo dann wieder anziehen: Ein lange geplanter Auftritt vor dem Parlamentskreis Mittelstand, letzte Telefonate, neueste Meldungen, Abstimmungen und Gespräche.

Annähern an die Größe der Aufgabe

An diesem Montag wird Angela Merkel sich offiziell zur Kanzlerkandidatin von CDU und CSU nominieren lassen. Niemand kennt die Choreographie dieses besonderen Montags. Die Menschen in ihrer Umgebung haben wieder einmal eisern dicht gehalten. Aber bestimmt haben sie sich einiges überlegt, damit es nur nicht aussieht nach: Das Mädchen freut sich, dass alle Männer sie nun endlich nominieren.

Gerade noch eiserne Lady

Sonntagabend aber will Angela Merkel ins Konzert gehen. Claudio Abbado ist in der Stadt. Er wird seine Philharmoniker noch einmal dirigieren. Mahlers Vierte. Das möchte sie sich trotz allem nicht entgehen lassen.

Ihr Ehemann, Joachim Sauer, dieser sportliche Professor für Quantenchemie, von dem es immer heißt, er zeige sich der Öffentlichkeit nur einmal im Jahr in Bayreuth, wird neben ihr sitzen. Wie immer. Wie so oft. Möglicherweise gehen Boulevard-Fotografen einfach viel zu selten ins Konzert.

Wie sie sich wohl fühlt zur Abwechslung mal als Wähler- und Medienliebling? Ob sie Momente hat, in denen sie ein wenig erschrickt, weil es jetzt wirklich wahr werden könnte? Und, was kann sie tun, um die neue Stimmung zu halten bis zum 18.September?

Wenn man Angela Merkel mit all diesen Überlegungen auf einmal bestürmt, sagt sie: "Ihre letzte Frage ist die eigentlich relevante."

Im Vorstand der CDU hat Bernd Neumann sie gleich am Montag nach der NRW-Wahl zur Kanzlerkandidatin ausgerufen. Alle haben geklatscht. Niemand hat widersprochen. Roland Koch sagte später in die Kameras: "Sie ist eben gut."Und er sagte es mit aller Glaubwürdigkeit und Überzeugung, zu der er sein Gesicht und seine Stimme bewegen kann.

Dienstag in der Fraktion hat Michael Glos sie dann vor Begeisterung schon zur CSU-Vorsitzenden befördert, als er die großen Verdienste "unserer CSU-Parteivorsitzenden Angela Merkel" pries. Und weil sich keiner traute, richtig laut zu lachen, hätte Glos draußen vor den Journalisten seinen Versprecher beinahe wiederholt. Er sagte dann so etwas wie: Unsere CSU-Partei-, ähm, CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende.

Schon eigenartig. Im Oktober war sie noch die berechnende eiserne Lady, der ein Mann nach dem anderen wegläuft. Da hieß es wieder einmal: Die kann es nicht. Die Unions-Männer werden sie nun aber wirklich mal wegputschen. - Und jetzt? Jetzt plötzlich wollen 50Prozent der Deutschen sie als Kanzlerin, nur noch 44Prozent sind für Schröder. Vergleichbare Popularitätswerte hatte Edmund Stoiber in seinem ganzen Wahlkampf gegen Gerhard Schröder nie. Wenn am Sonntag gewählt würde, wäre die Sache schon gelaufen.

Wie ist es, zu spüren, dass sich die Teile des Betriebs, die sich immer nach der Macht ausrichten, langsam neu und auf einen selbst zu orientieren beginnen?

Sie hat ja jetzt schon so viele Höhen und Tiefen durchlebt: Damals, nach der Spendenaufarbeitung, war sie ja schon mal die Königin der Herzen. Dann ist sie die eiskalte Dame geworden. Und jetzt ist wieder dieser Ausschlag in die andere Richtung. Sie ist sicher, dass sich diese Pendelausschläge nach und nach immer mehr annähern werden zu einem etwas realistischeren Gesamtbild: "Ein glückliches öffentliches Leben hat, wer am Ende die Zusammenfügung der divergierenden Komponenten schafft."

Rechnen in Energiesummen

An solchen Sätzen merkt man es wieder einmal: Angela Merkel ist Physikerin. Vielleicht sollten die Kamerateams und Exegeten, die jetzt wieder nach Templin pilgern, um das Geheimnis des unaufhaltsamen Aufstiegs der Angela Merkel aufzudecken, auch mal einen kleinen Abstecher nach Adlershof unternehmen, zur Akademie der Wissenschaften, an der Angela Merkel acht Jahre lang experimentiert, promoviert und geforscht hat.

Stimmt schon, in Templin kann man lernen, dass Angela Merkel immer schon den Vorteil einer hatte, die von außen dazugekommen ist und die deswegen noch was merkt. Möglicherweise ist es aber noch viel mehr dieser etwas andere und sehr befreiende Denkansatz einer Naturwissenschaftlerin, der ihr in einem Milieu von Juristen und Sozialwissenschaftlern gelegentlich diesen kleinen, entscheidenden Vorsprung verschafft hat.

Sie erklärt sich und anderen das politische Geschäft einer Mediengesellschaft gern in Erhaltungssätzen. Die Summe der Energie bleibt gleich. Hitze und Kälte, Tempo und Stillstand, Bewunderung und Verachtung, Auf und Ab, Gutes und Schlechtes halten sich die Waage, jedenfalls vom Ende des Experiments her gesehen. Und Physiker sind selbstverständlich gewohnt, die Dinge immer von ihrem Ende her zu denken.

Als sie vergangenen Sonntag beim ZDF in der Maske saß, als dann der Anruf kam: Schröder will Neuwahlen, da sagte sie als erstes: Das darf aber kein Fake sein. Also bitte, checken, checken, checken.

"Nichts ist schlimmer", erklärt sie, "nichts ist peinlicher für einen Politiker, als wenn man besondere Ereignisse kommentiert, die dann gar nicht stattfinden."

Aber es war kein Fake. Also begann, wie sie sagt, ein sehr ruhiges Rattern in ihrem Kopf. "Ich neige ja nicht dazu, zu schnelle Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich denke lieber noch einmal darüber nach, wo ein Haken sein könnte."

Der Haken und die Chancen. Was immer Gerhard Schröder sich gedacht haben mag, er scheint sich verrechnet zu haben. So jedenfalls sieht es eine Woche nach dem Coup aus. Vielleicht hat er geglaubt, die Union in Zugzwang zu setzen, hat gedacht, dann müssen die eine Kanzlerkandidatin ausrufen und kriegen sich bestimmt in die Haare, außerdem müssen die ganz schnell programmatisch zu Potte kommen, gibt bestimmt Krach. Vielleicht unterstützt auch der Süden den Norden wieder nicht richtig...

Schröder hat das, was Merkels Leute immer "ihr Startmomentum" nennen, offenbar falsch eingeschätzt. Und das Zweite ist, er hat nicht damit gerechnet, dass die Deutschen so heiß auf Neuwahlen sind. Wäre denn die Kandidatenfrage nach diesem Riesenwahlerfolg in Düsseldorf nicht sowieso fällig und geklärt gewesen? - Natürlich nicht. "Man muss so etwas vom Ende her denken. Das heißt von dem Willen, die Bundestagswahl 2006 zu gewinnen, und dafür wäre der Zeitpunkt jetzt eindeutig zu früh gewesen."

Wie Jünger im Pulk

Angela Merkel kann schön erklären, wie gefährlich politische Prozesse sind, die Spannung erzeugen sollen, sich dann aber zu lange hinschleppen. Johannes Rau war so ein viel zu lange gekürter Kandidat, mit allen schrecklichen Folgen, die ihm dann zugemutet wurden, vor allem aus der eigenen Truppe.

Auf dem Kirchentag in Hannover hätten begeisterten Menschen sie erdrückt, wenn die Bodyguards sich nicht so rabiat dagegen gestemmt hätten. Eben im Brauhaus in Vielank war es wieder so. Sehr ungewöhnliche Szenen, wenn man bedenkt, wie Mecklenburger sonst so sind. Jetzt suchen sie ihre Nähe, wollen nette Sachen sagen, jetzt laufen sie wie Jünger in einem Pulk von mehr als hundert Menschen hinter ihr her. Und man sieht, dass sie es genießt. Wie sehr sie es genießt.

Annähern an die Größe der Aufgabe

Wenn man sie dann aber fragen will, ob sie angesichts dieser Begeisterung und der neusten Umfragewerte Momente hat, an denen sie denkt, jetzt könnte es also wirklich wahr werden, ich, Angela Merkel könnte 15 Jahre nach der Wiedervereinigung die erste Frau in der Geschichte...

Dann unterbricht Angela Merkel schnell und sagt: "Sekunde mal. Ich habe Momente, wo ich die Größe der Aufgabe, die vor uns liegt, in vollem Umfang begreife." Theoretisch macht sie sich das zwar andauernd klar. Jetzt ist es etwas näher gerückt. Sie ist die Letzte, die sagt, wir haben das Ding gewonnen, aber es gibt diese reale Chance, zu gewinnen.

Hoffnung aus dem Fatalismus

Also muss sie sich auch mit der realen Möglichkeit auseinander setzen, Bundeskanzler zu sein. Und dafür ist es schön, dass es in der Bevölkerung eine gewisse Zustimmung gibt. Dadurch entsteht eine Rückbindung, von der sie zwar weiß, dass sie möglicherweise nur so lange hält, wie das Wetter. Aber dass es diese Zustimmung im Prinzip geben kann, hat offensichtlich mit dem zu tun, was sie gerne tun möchte für Deutschland und damit, dass sie offenbar daran glaubt, dass dieses Land besser da stehen könnte.

In ihren Reden wird wenig vorkommen, was eine finanzielle Versprechung bringt, außer dass die Leute Studiengebühren zahlen müssen. Sie wird wie Köhler sagen: Wir müssen so viel besser sein, wie wir teurer sind. Und trotzdem wird sie versuchen, aus dem allgemeinen Fatalismus eine Hoffnung zu machen: Man kann sich schließlich nicht einfach aufgeben wie einst die Mayas oder das Römische Reich.

Sie sagt ja jetzt immer: Wir bereiten uns seit sieben Jahren vor. Wir haben alles fertig in den Schubladen. Inzwischen sind schon ein paar Schubladen aufgegangen. Und siehe da: Anscheinend steckt in jeder etwas anderes. Es sind fast immer ihre Freunde gewesen, die was ausgepackt haben.

Maria Böhmer hat das Bildungsministerium gekippt, ihr Fraktionsvize Ronald Pofalla hat die Eigenheimzulage zum Steinbruch erklärt. Pofalla war offenbar gar nicht darauf vorbereitet, dass seine Worte plötzlich wichtiger genommen werden als Clement. Das hatte er doch alles letzte Woche auch schon gesagt und vorletzte auch, und jetzt plötzlich wird es Schlagzeile.

Angela Merkel wird es milde nehmen. Sie erinnert sich wahrscheinlich noch sehr gut daran, wie Kohl sie anfangs immer beschimpfen musste, wenn sie wieder einmal in bester Absicht etwas Falsches gesagt hatte. - Helmut Kohl. - Ohne ihn kann man Angela Merkel nicht verstehen. Er hat ihr politisches Talent erkannt. Er hat sie gefördert. An ihm ist sie gewachsen. Bei ihm hat sie gelernt, wie eine parlamentarische Demokratie in einer Mediengesellschaft funktioniert. Es ist der späte Helmut Kohl gewesen, der sich vor allem anderen um Machterhalt und Machtsicherung gekümmert hat.

Und, wenn wir schon einmal beim Deuten und Erklären sind - noch etwas wird plötzlich überdeutlich: Angela Merkel hatte ja immer auch den Vorteil, unterschätzt zu werden. Es ist der zweifelhafte Vorteil, den alle Frauen in diesem Land genießen, in dem es eine große Unfähigkeit gibt, mit weiblicher Führung umzugehen, auch weil niemand die Beschreibungs-, Rezeptions- und Verhaltensmuster dafür hat.

"Der Herr sei mit Ihnen"

Vielleicht sind es deswegen auf dem Kirchentag vor allem die Frauen, die sich immer wieder zu ihr vorkämpfen. Bauchfreie Mädchen rufen: "Angie, cool." Ältere Damen sagen: "Wir sind alle so stolz auf Sie, dass Sie für uns in den Löwenkäfig gehen." Und die typischen Kirchentagsfrauen sagen mit diesem unbeschreiblichen selbst gemachten Kirchentagsblick: "Der Herr sei mit Ihnen."

Annähern an die Größe der Aufgabe

Angela Merkel hört sich solche Beschreibungen in aller Ruhe an und sagt dann: "Wir sind uns im Zweifelsfall ja einig, dass die Tatsache, dass ich eine Frau bin, nicht immer nur ein Vorteil ist. Wenn jetzt der Initialstart aber sogar eine kleine zusätzliche Faszination bei den Frauen entfaltet, dann hat doch auch was Schönes."

Und ihr Mann, was sagt der zu alledem? Angela Merkel sagt, dass sie ihren Mann unter anderem auch in seiner Eigenschaft als kühl beobachtender Bürger schätzt. Und der sagt jetzt vor allem: Hoffentlich macht ihr es besser. Ansonsten haben die beiden eine Art Einverständnis aus der Wendezeit darüber, dass sie in die Politik geht. Auch wenn beide 1990 natürlich nicht ahnen konnten, was daraus werden würde. Joachim Sauer, Achim, wie sie ihn nennt, unterstützt sie. Aber er möchte selbstverständlich auch seinen Beruf behalten. Er erwartet nichts von ihr, was mit der Politik-Profession nicht vereinbar wäre. Und sie weiß genau, dass auch Wissenschaft den ganzen Menschen fordert und tut das umgekehrt auch nicht. Es scheint, dass die beiden sehr gut klar kommen damit.

Ein selbstständiger Gatte

Als Dagmar Schipanski Bundespräsidentin werden sollte, hat Joachim Sauer sich bei ihrem Mann erkundigt, was er denn als Gatte der Bundespräsidentin machen würde. Herr Schipanski war damals stellvertretender Landrat. Solche Leute haben Zeit und können mit gutem Gewissen antworten: Müttergenesungswerk. Joachim Sauer würde auf dieselbe Frage antworten: Ich werde meinen Job weiter machen.

Natürlich gibt es Fragen, die man der Frau auf ihrem Weg nach Berlin leider nicht stellen darf, jedenfalls nicht, wenn man eine Antwort will: Schattenkabinett zum Beispiel. Oder Mehrwertsteuer.

Und die Choreographie am Montag? - "Verrate ich Ihnen nicht. Wäre doch auch schade."

Es fühlt sich ja am Wochenende davor schon so an, als hätten viele Deutschen sich mit dem Gedanken angefreundet, eine Frau zu bekommen als Kanzler. Oder sagt man dann eigentlich Kanzlerin?

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