Merkel in Lingen: Streit um Laufzeiten:Es knallt am Atomkraftwerk

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RWE-Chef Jürgen Großmann bemüht sich beim Treffen mit der Kanzlerin, weder nach Angriff noch nach zu großem Selbstbewusstsein auszusehen. Doch Merkel verweigert ein klärendes Gespräch beim gemeinsamen Meiler-Besuch im Emsland. Und der nächste Streit ist sicher.

Michael Bauchmüller

Es knallt schon am Atomkraftwerk, da ist die Kanzlerin noch gar nicht angekommen. Mit groben Schuhen treten Werksschützer schwarze und gelbe Luftballons platt, auf denen Totenköpfe zu sehen sind. Atomgegner haben die Ballons gerade massenhaft in die Luft steigen lassen. "Abschalten, abschalten", skandieren 300 Demonstranten. Dann fliegt Angela Merkels Hubschrauber ein. Es regnet in Strömen.

"Abschalten, abschalten", skandieren die Demonstranten. Die gelben und schwarzen Luftballons, die am Atomkraftwerk Lingen in den Himmel steigen, sind mit Totenköpfen bedruckt. (Foto: dpa)

Eigentlich sollte der Ausflug ins Kernkraftwerk Emsland bei Lingen nur eine Visite von vielen auf Merkels Energiereise sein. Absichtlich stellte sie es protokollarisch auf eine Stufe mit einem Mini-Kraftwerk in der Nähe, wo ein Betreiber großer Gewächshäuser Strom aus Biomasse macht. Atomkraft als eine Frage von vielen - so sollte es aussehen. Aber so läuft die deutsche Debatte längst nicht mehr.

Dabei waren es zuletzt weniger Atomkraftgegner, mit denen sich die Kanzlerin hatte herumschlagen müssen - eher schon die Atomkraftwerksbetreiber. Kürzlich hatten sie mit einer Anzeigenkampagne ihre Interessen vertreten wollen. Die Kanzlerin war nicht begeistert - weswegen RWE-Chef Jürgen Großmann später in der Kraftwerkskantine vor einem Teller Suppe sitzt und ruft: "Konflikt? Es gibt keinen Konflikt!"

Fast verschluckt er sich an seiner Suppe. "Alle dürfen gegen die Kernkraft sein. Und dann soll eine Anzeigenkampagne für die Kernkraft Druck ausüben", fragt Großmann. Da hatte er die Kanzlerin schon durch das AKW geführt, zusammen mit Johannes Teyssen, dem Chef von Eon. Eon und RWE sind die größten Stromkonzerne des Landes, sie betreiben die meisten Kernkraftwerke, auch das in Lingen. Sie wollen besonders viel von Merkel.

Doch Merkel schweigt. Nur wenige Minuten Zeit lässt sie sich mit den beiden Energiebossen, viel weniger als mit den Betriebsräten. Ein klärendes Gespräch, eine Ansage der Kanzlerin, ein letzter Appell der Konzerne? "In den paar Minuten konnten wir nicht alle Zahlen erörtern", sagt Eon-Chef Teyssen später. Im übrigen werde Energiepolitik von der Politik gemacht, nicht in Verhandlungen, sagt er. Wenn das so ist, könnten die Unternehmen darüber durchaus erleichtert sein: Das Verhältnis zu den AKW-Betreibern war schon einmal besser.

Erst am Vorabend hat Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) in einer Fernsehsendung lautstark das "Oligopol" der vier großen Energiekonzerne angegriffen, jetzt ist er Merkels Begleiter im AKW. Wenn Merkel strammen Schrittes durch das Kernkraftwerk geht, hechtet Großmann, ein Mann von großer Statur, hinter ihr her; immer ganz verbindlich und leicht nach vorne gebeugt. Nichts soll mehr nach Angriff, nach zu großem Selbstbewusstsein aussehen. Als die Kanzlerin und der RWE-Chef nebeneinander durch den Regen gehen, tragen beide ihren eigenen Regenschirm. Das schafft Distanz.

Dabei hatte Merkel durchaus großes Interesse an dem Kernkraftwerk. Minutiös ließ sie sich im Herzen des Kraftwerks, der Leitwarte, die Steuerung des Reaktors erklären. Wie schnell er etwa reagiert, wenn plötzlich weniger Strom nötig ist, weil eine frische Brise Windstrom ins Netz drückt. Wie sicher, wie stabil er läuft. Das AKW Emsland, Baujahr 1988, ist eines der jüngsten Deutschlands. "Dies ist ein modernes, sehr sicheres und technisch anspruchsvolles Kernkraftwerk", lobt die Physikerin Merkel.

Das Signal ist klar: Sicherheit soll nicht verhandelbar sein, die Grundlage jeder Laufzeitverlängerung. Was aber die Kanzlerin sich im Einzelnen vorstellt, was genau die Betreiber dafür zahlen sollen und was sie dafür erhalten, das lässt sie im Dunkeln, wie eh und je. "Das sind die Aufgaben, denen wir uns in den nächsten Tagen stellen", sagt sie.

Schon an diesem Freitag geht das Rennen um die Lufthoheit los. Dann werden Gutachter einen Stapel von Berechnungen vorlegen, Konvolute von Variablen. Sie sollen darlegen, was längere Laufzeiten bringen - oder auch nicht: für Strompreise, für die deutsche Klimabilanz, für die Unabhängigkeit von Stromimporten. Und wie es bei Zahlenkolonnen so ist, bedürfen sie der Interpretation. Es wird viele verschiedene darunter geben, je nach Interessenlage. Streit ist sicher.

Als Merkel weiterfährt, sind die Werkschützer immer noch nicht mit allen Ballons fertig. Der Dauerregen hat auch die hartnäckigsten Demonstranten vertrieben. Das Kraftwerk läuft weiter.

© SZ vom 27.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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