Flüchtlingspolitik:Merkels Macht schwindet

German Chancellor Merkel sits before the start of a parliamentary investigation committee hearing on RWE's Biblis nuclear power plant shutdown, at the Chancellery in Berlin

Verliert Angela Merkel die Kontrolle in der Flüchtlingspolitik?

(Foto: REUTERS)

Niemand kann von der Kanzlerin erwarten, dass sie die weltweiten Fluchtbewegungen in den Griff bekommt. Aber jeder darf von ihr erwarten, dass sie ihre Regierung unter Kontrolle bringt.

Kommentar von Robert Roßmann

Politik ist normalerweise ein ziemlich komplexes Geschäft. Es ist nicht einfach zu sagen, an was etwas hakt, wenn sich alles verheddert hat. Manchmal gibt es aber auch Momente, in denen das Problem schlagartig offenkundig wird. Am Sonntag um 18.40 Uhr war so ein Moment. Wolfgang Schäuble hatte sich im Streit über den Umgang mit syrischen Flüchtlingen gerade demonstrativ hinter Innenminister de Maizière gestellt - und damit gegen Merkel und ihren Kanzleramtschef Altmaier. Ein Journalist twitterte das, worauf sich Altmaier sofort bei dem Redakteur mit der Frage meldete, was Schäuble denn gesagt habe.

Nicht nur der Journalist war darüber fassungslos. Merkels wichtigste Minister rufen sich in der mit Abstand wichtigsten Angelegenheit dieser Tage nicht an, sondern fragen über Twitter öffentlich nach, was der andere meint? Deutlicher kann man nicht zeigen, wie chaotisch es in Merkels Mannschaft gerade zugeht - und wie verhärtet die Fronten bereits sind. Der Streit über den Familiennachzug der Syrer offenbart aber noch viel mehr. Er zeigt die Erosion der Macht Merkels in der CDU. Noch vor drei Monaten lag die Union in den Umfragen bei 43 Prozent, sogar eine absolute Mehrheit im nächsten Bundestag schien möglich zu sein. Merkels Beliebtheitswerte waren grandios, sie konnte in der CDU beinahe absolutistisch walten. Und jetzt?

Die Kanzlerin verliert Kontrolle über die Flüchtlingspolitik

Binnen eines Vierteljahres ist Merkel von der unbestrittenen Herrscherin über ihre Partei zu einer Getriebenen geworden. Sie kann sich freuen, wenn sie unbeschadet durch Sitzungen der Unionsfraktion kommt. Die ersten CDU-Mitglieder verlangen bereits ihren Rücktritt. Sogar im CDU-Präsidium findet Merkel kaum noch Rückhalt für ihren Flüchtlingskurs. Und Merkels mächtigster Gegner, der bayerische Ministerpräsident, hat die Kanzlerin in den Beliebtheitsumfragen fast eingeholt. Vor drei Monaten lag Seehofer noch 35 Prozentpunkte hinter der CDU-Chefin.

Die Kanzlerschaft Merkels ist damit zwar noch nicht gefährdet - trotz ihres Einbruchs in den Umfragen gibt es bisher niemanden, mit dem die Union bei Wahlen besser abschneiden würde. Merkels Autorität ist aber schon so stark beschädigt, dass sie die alleinige Kontrolle über die Flüchtlingspolitik ihrer Regierung verloren hat. Immer mehr Granden der CDU sagen: Wir schaffen das - aber auf unsere Weise.

So ein Chaos hat es in der CDU seit Jahren nicht gegeben

Angela Merkels herzlicher Optimismus und ihre standhafte Weigerung, von einer Obergrenze bei der Flüchtlingszahl zu sprechen, kaschieren, dass die große Koalition längst ihren Kurs geändert hat. Das erste Paket zur drastischen Verschärfung des Asylrechts ist bereits in Kraft, das zweite wurde vergangene Woche von den drei Parteichefs beschlossen. In den Paketen steckt viel, was nicht nur die SPD vor drei Monaten noch als des Teufels gebrandmarkt hat.

Wie schwach Merkel und ihr Kanzleramtschef in der Frage bereits geworden sind, konnte man ebenfalls am Sonntag erleben. Da hatte Altmaier gerade den vom Innenminister entfachten Streit über den Familiennachzug für Syrer für beendet erklärt; man habe jetzt "für Klarheit gesorgt" und die "Irritation überwunden", sagte Altmaier. Aber noch am selben Tag meldeten sich neben Schäuble, auch CSU-Chef Seehofer und mehrere stellvertretende CDU-Vorsitzende zu Wort und ergriffen Partei für de Maizière und seinen Vorstoß. Ein derartiges Chaos hat es in der CDU schon seit Jahren nicht mehr gegeben.

Merkel konnte nicht anders, als de Maizière das Vertrauen auszusprechen

Niemand kann von Merkel erwarten, dass sie die weltweiten Fluchtbewegungen in den Griff bekommt, aber jeder darf von einer Kanzlerin erwarten, dass sie ihre Regierung unter Kontrolle bringt. Offenbar fehlt Merkel inzwischen aber die Kraft dafür. Wenn sie de Maizière wegen seines Alleingangs entlassen würde, würde sie einen Sturm in der CDU entfachen, dem sie selbst zum Opfer fallen könnte. Und so blieb ihr am Montag nichts anderes übrig, als dem Innenminister das Vertrauen auszusprechen, obwohl sie genau das nicht mehr in ihn haben dürfte.

Ärgerlich an dem CDU-Chaos ist aber auch, dass es eine sachliche Debatte darüber erschwert, ob die bisherigen Regeln zum Familiennachzug noch zeitgemäß sind. In diesem Jahr kommen mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland, diese dürfen bisher weitgehend unbeschränkt ihre Familien nachholen. Die Kommunen sind aber schon jetzt an der Grenze ihrer Kapazitäten. Angesichts dieser Lage muss eine Debatte darüber erlaubt sein, ob für Flüchtlinge, deren Familie bereits in Sicherheit, aber noch nicht in Deutschland ist, der Nachzug zumindest vorerst beschränkt werden kann. Doch wegen des Richtungsstreits in der CDU kreist die Auseinandersetzung jetzt nur noch um Machtfragen.

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