Bundestagswahl:84 000 Bürger ohne Stimme

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Ein Rollstuhl ist in vielen deutschen Wahllokalen kein Hindernis mehr. Tausenden Menschen mit Behinderung ist der Weg an die Wahlurne trotzdem versperrt.

(Foto: Ute Grabowsky/imago/photothek)

Menschen mit Behinderung können von der Bundestagswahl ausgeschlossen werden. Die Zweifel wachsen, ob das zulässig ist.

Von Kim Björn Becker

Mag der Wahlkampf auf viele auch noch so eintönig wirken in diesen Tagen, die Bundestagswahl am 24. September ist noch immer so etwas wie die größte Party der Demokratie im Land. Fast alle Deutschen, die älter als 18 Jahre sind, dürfen daran teilnehmen, annähernd 62 Millionen insgesamt - doch ein paar Tausend Bürger werden auch in diesem Jahr keine Einladung bekommen. Die Feier wird ohne sie stattfinden, wieder einmal. Und genau das ist für viele ein großes Problem, ein Missstand, der dringend beseitigt gehört.

Wie viele Menschen in diesem Jahr vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, lässt sich nicht genau sagen. Vieles spricht dafür, dass es mehr als 84 000 Bürger sind - das entspricht der Einwohnerzahl einer mittelgroßen Stadt wie Gießen. Die Zahl geht aus einer Studie des Bundessozialministeriums aus dem vergangenen Jahr hervor, Berechnungsgrundlage waren die Jahre 2014 und 2015.

Weil Wahlen das Rückgrat einer repräsentativen Demokratie sind, ist es auch keine Kleinigkeit, wenn einem Bürger das Wahlrecht entzogen wird - schließlich wird dem Betroffenen auf diese Weise seine Chance versagt, Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments zu nehmen. Die Hürden für einen Verlust des Wahlrechts sind in Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes geregelt. Demnach kann sein Recht auf Stimmabgabe verlieren, wer in allen Angelegenheiten seines Lebens von einem gesetzlichen Betreuer vertreten wird, wer nach einer begangenen Straftat in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht ist und wer infolge eines Richterspruchs das Wahlrecht verliert.

Ohne Wahlrecht

84 000 Volljährige dürfen nicht wählen. Darunter fallen etwa 81 000 Menschen, die zum Beispiel wegen einer geistigen Behinderung von einem Gericht einen Betreuer in allen Angelegenheiten zur Seite gestellt bekommen haben. Weiterhin sind 3000 schuldunfähige Straftäter betroffen, die in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht sind.

In fast allen Fällen, in denen Bürgern das Wahlrecht entzogen wurde, spielte die gerichtliche Betreuung eine Rolle. Bei schwerer Demenz oder geistiger Behinderung kann ein Richter dem Betroffenen einen gesetzlichen Betreuer zur Seite stellen und festlegen, in welchen Lebensbereichen die Unterstützung nötig ist. Nur wenn eine Betreuung ausdrücklich in allen Lebensbereichen vorgeschrieben wird, verliert der Betroffene auch sein Wahlrecht - zuletzt war das laut der Studie bei mehr als 81 000 Menschen bundesweit der Fall. An dieser Praxis entzündet sich Kritik. Oppositionsparteien und Sozialverbände haben Zweifel daran, dass ein Ausschluss von der Wahl zulässig ist.

Das deutsche Wahlrecht ist uneinheitlich - und diskriminiert

Ein erstes Argument zielt darauf, dass Betreute in wenigen Bundesländern zwar an Landtagswahlen teilnehmen dürfen, an der Bundestagswahl hingegen nicht. Dies könne nicht sein. Doch die Kritik ist viel grundsätzlicher: "Eine Betreuung hat mit der Fähigkeit zu wählen nichts zu tun", sagt Corinna Rüffer, die behindertenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag. "Wer wählen will, der soll das tun." Auch die Behindertenorganisation Lebenshilfe, der die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) vorsteht, sieht das so. Anstatt Behinderte auszuschließen, müsse man ihnen Hilfe anbieten. Viele Betroffene brauchten "eine leichte Sprache, die brauchen vielleicht Hilfestellungen über Bilder und anderes mehr, aber das schränkt ihre politische Entscheidungsfähigkeit nicht ein", sagte Schmidt dem Deutschlandfunk.

Zudem wird kritisiert, dass das deutsche Wahlrecht in zwei weiteren Punkten uneinheitlich sei und Menschen diskriminiere. Beispiel Demenzkranke: Wer infolge seiner Erkrankung per Gericht in allen Angelegenheiten einen Betreuer zur Seite gestellt bekommt, fällt automatisch aus dem Wählerregister heraus - wer aber im frühen Stadium seiner Erkrankung eine entsprechende Vorsorgevollmacht unterschreibt, bleibt drin. Dies könne dazu führen, dass zwei Menschen mit vergleichbarer geistiger Einschränkung vom Wahlrecht unterschiedlich behandelt werden, kritisierte Schmidt.

Der zweite Punkt betrifft die Frage, wie oft Richter bei Behinderten eine Betreuung "in allen Angelegenheiten" anordnen. Offenbar handeln die Gerichte in dieser Frage recht uneinheitlich: In Bremen kommen rechnerisch fast acht Fälle einer Betreuung in allen Angelegenheiten auf 100 000 Wahlberechtigte, in Bayern sind es 204. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 132 Personen. "Ob man als Behinderter wählen darf oder nicht, ist damit eine Frage des richtigen Wohnorts", sagt Corinna Rüffer. "Das hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun."

Die Grünen und die Linken forderten daher im Frühjahr, zwei von drei gesetzlichen Ausschlussregeln ersatzlos zu streichen. Der von beiden Fraktionen vorgelegte Gesetzentwurf sah vor, dass Personen nur noch infolge eines Richterspruchs das Wahlrecht verlieren können sollen. So können Richter bei politisch relevanten Delikten wie Hochverrat oder der Bildung einer terroristischen Vereinigung zusätzlich zu einer Haftstrafe verfügen, dass die Verurteilten nicht wählen dürfen. Wie oft das vorkommt, ist nicht bekannt - klar ist nur, dass es sehr selten ist. Nach Auskunft des Bundesjustizministeriums weist die offizielle Statistik nur die richterliche Aberkennung von Bürgerrechten im Allgemeinen aus - ohne Aufschluss darüber zu geben, ob im jeweiligen Fall das Wahlrecht betroffen war oder nicht. Der bislang letzte Fall einer richterlichen Aberkennung von Bürgerrechten wurde nach Angaben des Ministeriums im Jahr 2012 vermerkt, allerdings reichen die aktuellen Statistiken nur bis ins Jahr 2015.

Nach dem Willen der Opposition soll der Wahlrechtsausschluss dem Gesetzentwurf zufolge in Zukunft auch dann nicht mehr möglich sein, wenn ein schuldunfähiger Straftäter aufgrund einer psychischen Erkrankung in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht wird. Die Studie des Sozialministeriums weist dafür etwa 3000 Fälle aus. Allerdings kam der Entwurf von Grünen und Linken im Bundestag zuletzt nicht gegen Union und SPD an. Die Koalition hatte die Frage der Behindertenrechte nämlich an eine umfassende Reform des Wahlrechts geknüpft - es geht unter anderem darum, die Zahl der Abgeordneten zu begrenzen. Eine Einigung wurde dabei allerdings nicht erzielt.

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