Meine Presseschau:Wo sind die Flüchtlinge geblieben?

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Die Zahl der Migranten auf der zentralen Mittelmeerroute ist dramatisch gesunken. Italiens Presse diskutiert nun, ob das ein Erfolg ist oder eher das Ergebnis einer überaus zweifelhaften Politik.

Von Oliver Meiler, Rom

Oliver Meiler lebt in Rom, seit Montag war er einmal draußen – fürs Einkaufen von Lebensmitteln. (Foto: N/A)

Ist das schon eine Trendwende? Oder eher eine kleine Sommerzäsur - eine "Waffenruhe", wie es die linke Zeitung Il Manifesto mit einem fragwürdigen Sprachbild nennt?

Seit zwei Monaten kommen sehr viel weniger Flüchtlinge aus Libyen nach Italien als in den Monaten und Jahren zuvor. Weniger als halb so viele. Über die Gründe des plötzlichen und erstaunlich deutlichen Rückgangs der Fahrten auf der zentralen Mittelmeerroute wird viel spekuliert. Italiens Innenminister Marco Minniti, der einiges geändert hat an der Migrationspolitik seines Landes, versteht den Rückgang als Erfolg. Diese Woche sagte Minniti, er sehe "Licht am Ende des Tunnels", in Libyen tue sich etwas. Die Frage ist nur: zu welchem Preis?

Die italienischen Zeitungen sind in ihrer Sicht auf Minniti gespalten. Die rechten und bürgerlichen Blätter feiern den Postkommunisten aus Kalabrien als Macher, als "Minister aus Stahl"; die linken hingegen kritisieren, Minniti traue der fragwürdigen libyschen Küstenwache, mit der er einen Deal geschlossen hat, mehr als den humanitären Organisationen aus Deutschland, Frankreich und Spanien, die im Mittelmeer Leben retten. Das Nachrichtenmagazin L'Espresso schreibt: "Früher war es normal, für Linke sowieso, dass man sich immer auf die Seite von Ärzte ohne Grenzen schlug, es war ein Automatismus." Chefredakteur Tommaso Cerno wirft der sozialdemokratischen Regierung vor, sie sei in die "Falle der Rechten" getappt und behandle die Flüchtlingsfrage nun ebenfalls wie einen Notfall: "Das ist kurzsichtig, die große Migration des neuen Jahrtausends hat nämlich noch gar nicht begonnen."

Die Debatte über den passenden Umgang mit den NGOs hatte Roberto Saviano, Bestsellerautor aus Neapel ("Gomorrha") und mittlerweile einer der bedeutendsten linken Intellektuellen im Land, vor einigen Tagen neu belebt. In der römischen Tageszeitung La Repubblica verteidigte Saviano die Leute von Ärzte ohne Grenzen, die sich geweigert hatten, Minnitis Verhaltenskodex für die NGOs im Mittelmeer zu unterzeichnen: "Ich halte es mit Ärzte ohne Grenzen", schrieb er, "und ich möchte das klar und deutlich sagen in einem Moment, da sich gerade eine gefährliche Dynamik entfaltet: nämlich die Kriminalisierung der humanitären Geste." Es sei richtig und wichtig, dass die neutralen, politisch unabhängigen Helfer es ablehnten, bewaffnete Beamte an Bord ihrer Schiffe zuzulassen, wie das Minniti von ihnen fordere. Drei NGOs haben nun beschlossen, ihre Operationen zu suspendieren, weil sie sich bedroht fühlen von der libyschen Küstenwache.

Savianos Text war ein Pamphlet, eine Klageschrift. Die Replik darauf kam vom Politologen Ernesto Galli della Loggia, einem berühmten Kommentator der bürgerlichen Zeitung Corriere della Sera aus Mailand. Galli della Loggia schrieb, so neutral, wie Saviano das gerne hätte, seien die NGOs nicht. Die italienische Marine und die italienische Küstenwache hätten zudem bewiesen, dass es auch möglich sei, Menschen zu retten, ohne dabei "undurchsichtige Kontakte zu den Menschenhändlern" zu haben. Der Corriere machte daraus die Überschrift: "Man muss sich entscheiden zwischen Italien und den Schleusern." Genau so hatte es Galli della Loggia zwar nicht geschrieben, doch der Titel traf den Sinn seines Kommentars schon recht gut. Mit "man" waren nicht nur die NGOs gemeint, sondern auch Saviano und La Repubblica. Seitdem befehden sich die beiden größten Zeitungen Italiens in der komplizierten Migrationsfrage mit immer neuen Spitzen. Sie passen in die Wirrnisse dieser Zeit.

© SZ vom 19.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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