Meine Presseschau:Wie warten auf Godot

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Frankreich steht bereit, mit Deutschland einen neuen Anlauf zur Reform Europas zu nehmen. Doch Berlin beschäftigt sich mit sich selbst. Die französische Presse reagiert enttäuscht.

Ausgewählt von Leo Klimm, Paris

Es liegt eine gewisse Tragik in dieser deutsch-französischen Rhythmusstörung. Mit der Wahl Emmanuel Macrons zum Präsidenten hat sich Frankreich nach langer Agonie im Frühjahr für mehr Europa und eine erneuerte Partnerschaft mit Deutschland entschieden. Und was macht Deutschland? Es wirkt nach seiner eigenen Wahl ganz und gar nicht bereit, sondern gelähmt. Da wundern sich die Franzosen. Galten ihnen doch Deutschland, seine Kanzlerin und die viel gerühmte Fähigkeit zum Kompromiss als Stabilitätsanker eines krisenanfälligen Europa.

Nun aber muss Frankreich erkennen, dass manche deutsche Parteien lieber keine Kompromisse eingehen und dass europhobe Kräfte stark geworden sind. Die Kommentatoren der Pariser Medien reagieren zwar besonnen auf den Aufstieg der AfD. Kein schriller Nazi-Alarmismus, keine Häme. Dafür macht sich Sorge breit. Und die Erkenntnis, dass Macron viel Geduld braucht, bis aus Berlin eine Antwort auf seine EU-Reformvorschläge kommt. Mancher Beobachter fühlt sich da an "Warten auf Godot" erinnert. In Becketts Stück ist die Warterei bekanntlich vergebens.

Skeptisch ist etwa Le Monde: Nach der widerwilligen Annäherung der SPD an eine neue große Koalition sei zwar die Deutung möglich, der zufolge eine Regierung aus Union und SPD gut für Europa und gut für Macron sei. Dessen Vorschläge würden in Berlin dann eher gehört als von einer Koalition mit Beteiligung der "eurokritischen" FDP. "Aber leider ist die pessimistische Variante realistischer", so das linksliberale Blatt. SPD und Union, das sei nun einmal eine Koalition der Verlierer. SPD-Chef Martin Schulz - ehedem EU-Parlamentspräsident - habe sich im Wahlkampf nicht getraut, auf Europa zu setzen. Merkel wiederum stehe kaum für Aufbruch. "Diese Koalition droht eher eine Allianz der Lahmen zu sein als ein Gewinner-Team. Das ist weder für Deutschland noch für Europa eine gute Nachricht."

Auch das auf Internationales spezialisierte Portal Boulevard Extérieur blickt pessimistisch nach vorn. "Die Turbulenzen in Deutschland kosten wertvolle Zeit, wo doch alle wissen, dass 2018 ein Entscheidungsjahr für die EU wird." In der Tat war es Macrons Plan, die EU im bevorstehenden Jahr ruckzuck krisenfest zu machen, damit die Pro-Europäer bei der Europawahl 2019 in die Offensive kommen. "Wenn die Deutschen das Rendezvous verpassen, sind alle französischen Mühen umsonst", meint der Onlinedienst.

Deutschland sei ein ernstes - also: seriöses - Land, seine Langsamkeit in einer sich rasant verändernden Welt aber auch ein ernstes Problem. Das schreibt Éric Le Boucher in Les Echos. Jahrelang pries der Kolumnist das "modèle allemand". Nun übt er, offenbar schwer enttäuscht, grundsätzlich Kritik: "Jenseits des Rheins herrscht ein zaghafter Zeitgeist, der aus Zukunftsangst, konservativer Verkrampfung und der Beschäftigung mit sich selbst besteht. Die Parteien sind erstarrt, alle werben für das Weiter-so. Niemand hat echte Ideen, um Deutschland bereit zu machen für die riesigen Herausforderungen, die die Welt und Europa in diesem Jahrhundert erwarten." Sei die "deutsche Frage" einst ein Problem der Übermacht gewesen, mache sich das Land jetzt klein. Es sei Zeit, den bequemen "Ökonomismus" aufzugeben, heißt es - wohlgemerkt in einem Wirtschaftsblatt. Die Deutschen sollten sich nicht nur über ihre ach so wettbewerbsfähige Industrie definieren, sondern zum Beispiel militärisch mehr für Europas Sicherheit tun. Überhaupt: Deutschland solle "aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken und zugleich die anderen Länder zu belehren". Le Boucher ist nicht der Einzige, der so denkt.

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