Meine Presseschau:Wahlen in der Türkei

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Was die Kommentatoren über die neuen Machtverhältnisse denken. Ausgewählt von Mike Szymanski.

Ausgewählt von Mike Szymanski

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich nach der Niederlage seiner AKP bei der Parlamentswahl am vergangenen Wochenende rargemacht. So richtig vermisst wird er deshalb noch nicht. Die vor allem bei den Kemalisten beliebte Oppositionszeitung Sözcü titelte am Donnerstag: "Wie wohltuend, diese Stille!" Das Volk sei abhängig von Erdoğan gewesen wie von Zigaretten. Jetzt sei es Zeit, sich zu entwöhnen und gesund zu werden. "Dann werden wir schon sehen!"

Eine Türkei ohne Erdoğan? Dafür ist es vielleicht noch ein bisschen früh. Zwar hat seine Partei am Sonntag neun Prozentpunkte eingebüßt und kann erstmals seit 2002 nicht mehr alleine regieren. Aber 41 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihr immerhin noch die Stimme. Die AKP ist weiterhin eine Macht im Land. Die regierungsnahe Zeitung Yeni Şafak hat trotzdem Mühe, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Kolumnist Hayrettin Karaman beschimpft die AKP-Gegner: "Ihr habt die Regierung zum Einsturz gebracht. Jetzt baut sie erst mal wieder auf!"

Geht es nach Güray Öz, Kolumnist der linksliberalen Cumhuriyet, dann geschieht das womöglich ohne AKP. Er macht darauf aufmerksam, dass Erdoğans Partei den Staatsapparat beherrscht und "bis in die Kapillargefäße" ihren Einfluss ausübt. "Wenn jetzt keine radikalen Änderungen kommen, wird sich nichts ändern", schreibt er. Bei der Wahl am Sonntag sei nur der Anfang gemacht worden, Erdoğans Allmacht zu brechen.

Dass die Cumhuriyet daran vitales Interesse hat, ist wenig verwunderlich. Erdoğan hat wenige Tage vor der Abstimmung die Zeitung bedroht. Für ihre kritische Berichterstattung über angebliche Waffentransporte in die syrische Kampfzone würden die Verantwortlichen eine hohen Preis zahlen. Gegen den Chefredakteur der Zeitung wurden kurz darauf Ermittlungen eingeleitet. Einschüchtern ließ sich das Blatt trotzdem nicht.

Für Cengiz Çandar, Kolumnist der regierungskritischen Internet-Zeitung Radikal geht nach Wochen der Drohungen und Dauerbeschallung durch Erdoğan und Regierungschef Ahmet Davutoğlu in der Türkei ein "Totalitarismus-Albtraum" zu Ende. Ayşe Arman, Kommentatorin der Hürriyet, sieht in dem Ausgang einen späten Erfolg der Gezi-Proteste. 2013 hatte Erdoğan die Bürger seines Landes in einem Streit um die Zukunft des Istanbuler Gezi-Parks herausgefordert, es kam zu tagelangen Unruhen. "Damals war es die Jugend, die sich gegen Erdoğan aufgelehnt hat. Diesmal war es das ganze türkische Volk, das gesagt hat: Komm' zu dir!" Nun freut sich die Autorin auf einen schönen Sommer. "Trotz dieser erstickenden Atmosphäre hat der Juni gut angefangen."

Cumhuriyet-Kolumnist Güray Öz denkt auch an Gezi zurück. Aus seiner Sicht habe vor allem Selahattin Dermitaş, der Vorsitzende der pro-kurdischen HDP, den "Geist von Gezi" verstanden. Seine Partei sorgte mit aus dem Stand heraus 13 Prozent der Stimmen für eine Sensation bei dieser Wahl. "Sie ist bunt wie ein Regenbogen", schreibt Öz über die Partei, die als regierungskritische Basisbewegung im Wahlkampf aufgetreten war und die Parteilandschaft des Landes stark verändern wird. Die konservative Zeitung Habertürk fragt sich, was nun kommt. Die Regierungsbildung gestaltet sich schwierig, alle Oppositionsparteien zieren sich, mit der AKP zusammenzugehen. "Neuwahlen, na los!" - für Muharrem Sarıkaya ist das kein Ausweg. "Wer weiß, was die AKP dann für eine Überraschung erlebt." Auch die HDP könne sich nicht sicher sein, wieder auf 13 Prozent der Stimmen zu kommen. Noch ist alles offen in dem Land, in dem die Machtverhältnisse als zementiert galten.

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